Filmbesprechung: „Zwischen uns“

„Zwischen uns“ ist ein deutscher Kinofilm aus dem Jahr 2022. Er ist zur Zeit bei arte in der Mediathek, und Autistic Realist und ich, wir haben ihn uns angesehen, fleißig Notizen gemacht und später noch gemeinsam überarbeitet und ergänzt. (@AutisticRealis1 auf Twitter, @autisticrealist.bsky.social auf Bluesky).

Um unsere Kommentare einordnen zu können, habe ich den größten Teil der Handlung mit aufgeschrieben, der ganze Text ist also quasi ein einziger großer Spoiler.

Der größte Spoiler vorweg:

Der Film ist nicht wirklich zu empfehlen. Manche Situationen, die die Mutter erlebt, sind durchaus realistisch. Der Film versäumt aber die Gelegenheit, die Schwierigkeiten, die Mutter und Kind haben, adäquat einzuordnen.

Im Detail:

Felix und seine Mutter: Felix muss Gefühle auf Bildern erkennen üben – welche Therapie war das noch? Halte ich nicht für sinnvoll.

Runder Tisch oder Klassenkonferenz in der Schule: Die Mutter sagt, das Kind wird nicht von sich aus aggressiv, sie verlangt, dass ein anderes Kind Felix nicht bedrängt. Ich finde das sehr nachvollziehbar. Eine andere Mutter will Felix auf eine Förderschule abschieben.

Die ganze Situation wirkt sehr realistisch.

Felix wird eine Schulbegleitung bekommen. Das ist meiner Meinung nach unrealistisch, die meisten Eltern, von denen ich gehört habe, haben das extra beantragen und dann darum kämpfen müssen. Das ohne Antrag und ohne Kampf zu bekommen ist unrealistisch.

Die Schulbegleiterin bietet an, dass sie Felix auch abholen und zurückbringen kann; das wird später noch wichtig. Die Schulbegleitung sagt, das macht sie doch gerne, sie hätte aber auch sagen können, dass sie das als Arbeitszeit auch bezahlt bekommen kann. Das wär nämlich auch realistischer.

Später sitzt das Kind vor der Waschmaschine – Klischee…

Wieder wird die Mutter in die Schule zitiert. Das Kind ist weggelaufen, und keiner ist hinterher. Vielleicht hatte er einen Grund. Wird man hoffentlich erfahren.

Wir finden das Kind in einem Supermarkt. Es hat ein Lamm im Arm.

Autistic Realist: Wieso geht es in einen Supermarkt?! Welches autistische Kind flieht in einen Supermarkt? (Supermärkte sind für viele Autisten zu reizüberflutend, um sie länger aushalten zu können.)

Das ist hinter den Kulissen, wie es scheint, in einem Lagerrraum. Da wird es ruhiger sein, und er kennt den Mann da.

Mutter und Sohn spielen ein Spiel, und der Sohn überrascht mit Wissen über Tiere, besonders Fische.

Autistic Realist: Spezialinteresse Biologie. KEIN Klischee, das find ich gut.

Jetzt klärt sich, warum das Kind weggelaufen ist: weil es nassgespritzt wurde. Keine Ahnung, ob er versucht hatte, das mit Worten zu klären, wie ihn die Mutter ermahnt hat. Insgesamt ist Felix meist schweigsam und in sich gekehrt. Das ist nervig, aber zu diesem Zeitpunkt denke ich noch, dass es die Spannung erhöhen soll. Ich halte es für wahrscheinlich, dass er deutlich gesagt hat, dass er das nicht will, und die anderen (oder das andere Mädchen) weitergemacht haben.

Pelle, ein Freund der Mutter, will Felix mitnehmen in den Großmarkt, wo er beruflich zu tun hat.

Später Szene mit Mutter und Sohn.

Autistic Realist: Sie erklärt aber auch nie. Niemand erklärt ihm, wie man als Autist in einer nichtautistischen Welt überlebt. Sie erteilt immer nur Anweisungen oder stellt Regeln auf, ohne irgendwie zu erklären, warum das wichtig und sinnvoll ist.

Das Kind ist bisher vor allem verschlossen und einsilbig, Stimming hat man noch nicht von ihm gesehen.

Die Mutter ist bei der Arbeit im Supermarkt. Sie bekommt Ärger, weil Felix das Schaf mitgebracht hatte.

Felix in der Schule, in einem separaten Raum, mit der Schulbegleiterin.

Felix hat in der Schule eine Sanduhr als Timer, der anzeigt, wann er mit seiner Aufgabe aufhören und in die Klasse zurückkommen soll. Das ist nicht schlecht, aber die Schulbegleiterin hätte das mit dem Aufhören auch vorher ansagen können, und nicht sofort das Heft nehmen müssen. Wieder Meltdown, wieder Mutter in die Schule zitiert. Die Schulbegleiterin deckt ihn, hätte aber der Mutter die Wahrheit sagen sollen.

Die Mutter sagt, er soll den Gehörschutz absetzen, er soll ihr zuhören („Felix, kannst du mal die Dinger abmachen, bitte.“). Nicht gut. Nicht in einer Situation, in der er schon gestresst ist.

Autistic Realist: Die „Dinger“ werden ihn nicht daran hindern, Sprache zu verstehen.

Szene mit Mutter und Kind. Felix fragt seine Mutter etwas, und als sie nicht antwortet, wiederholt Felix immer wieder die Frage.

Autistic Realist: Sie sollte antworten. Ja, da braucht sie sich nicht zu wundern, wenn ER mal nicht antwortet.

Felix wird plötzlich wütend.

Ich: Er hat einen Meltdown, weil er gefragt hat und keine Antwort bekommen hat. Bzw. sie ihn dafür kritisiert hat.

Autistic Realist: Er reagiert eigenartig plötzlich. Und die Bewegungen sind völlig willkürlich. Er albert da nur irgendwie rum. Das wirkt teilweise fast, als würde man sich drüber lustig machen.Ein Meltdown ist ECHTE VERZWEIFLUNG und kein willkürliches Gezappel und Geschrei, man weiß einfach nicht mehr, wie man den Reizen entkommen soll, es soll einfach nur aufhören.

Ich: Wahrscheinlich ist der Schauspieler ein nichtautistisches Kind, und niemand im Team, der ihm das richtig zeigen kann. Vielleicht wird es später noch erklärt. Und so was Plötzliches kann ich mir vorstellen bei jemandem, dem die Stresssymptome, die dem vorausgehen, abtrainiert wurden. Aber dann wäre eben zumindest der „Ausbruch“ mit richtigerer Körpersprache.

Die Mutter erzählt: Sie ist gekündigt worden, weil sie immer wieder wegen Felix in die Schule musste.

Pelle hat Felix einen Fisch beim Großmarkt gekauft und zeigt ihm nun, wie man ihn zubereitet.

Autistic Realist: Ich find das sinnvoll. Das mit dem Großmarkt und dem Kochen üben.

Im Gespräch mit Pelle zeigt Felix Infodumping. Es tut gut, ihn über etwas reden zu hören, das ihn interessiert. Das kommt im ganzen Film sonst nicht mehr vor.

Später zeigt Pelle Felix, wie man tanzt, und alle drei tanzen. Sie haben auch Spaß zusammen. Sowas braucht man auch.

Die Mutter soll in der Gastronomie probearbeiten. Hoffentlich passt das besser mit Felix, seinen Schulzeiten und dem Aufpassen nachmittags und abends.

Szene in der Schule, Felix läuft aus dem Unterrichtsraum in ein Nebenzimmer, die Schulbegleiterin folgt ihm. Mein Gedanke: Felix ist überlastet. Die Schulbegleiterin sollte proaktiv schon Rausgehen vorschlagen, bevor er rauslaufen muss. Die Schulbegleiterin versucht, Felix zu beruhigen. Positiv: Sie versteht, dass es anstrengend ist, und alle ihn anpassen wollen.

Es ist aber ganz anders:

Mitschüler haben Felix die „blaue Karte“ gezeigt, und darum musste Felix die Klasse verlassen.

Diese „blaue Karte“ gibt es wirklich. Beschrieben wird sie hier in einem Artikel über einen autistischen Jungen, dessen individuelle Förderung vor Gericht erstritten werden musste:

Welt: Autistische Kinder haben Recht auf individuelle Förderung

Zitat:

„Doch dann kam es zu zwei Vorfällen, die alles veränderten. Einmal rauchte Sebastian, inzwischen 14, unerlaubt eine Zigarette, ein anderes Mal schlug er einen Mitschüler. Im ersten Fall empfanden die Eltern die Bestrafung als zu drastisch, auf den zweiten Vorfall reagierte die Schule damit, dass die Mitschüler Sebastian eine blaue Karte zeigen sollten, wann immer er aus ihrer Sicht die Grenzen überschritt.“

Was so eine „blaue Karte“ anrichten kann, wird in diesem Text beschrieben:

Inklusion, Recht auf Förderung und Förderschwerpunkte

Dass Mitschüler „blaue Karten“ an das autistische Kind in der Klasse verteilen, ist eine Ungleichbehandlung, bei der die anderen Schüler beim autistischen Schüler Macht haben, unliebsames Verhalten zu ahnden, bei anderen Schülern jedoch nicht. Das Verhalten des autistischen Schülers wird dadurch stärker kontrolliert und in der Folge auch härter sanktioniert. Zugleich öffnet so ein Hilfsmittel wie diese „blaue Karte“ Mobbing gegen den autistischen Schüler Tür und Tor.

Nächster Tag, Hinweg zur Schule: Felix wartet anscheinend mit der Schulbegleiterin an einer Haltestelle und läuft plötzlich weg, nach späterer Aussage der Schulbegleiterin wegen Lärm. Er läuft zum Großmarkt, versteckt sich im Transporter von Pelle und wird dort gefunden.

Die Mutter wird schon wieder in die Schule zitiert wegen Felix, weil er wieder weggelaufen war – oder ist es das Jugendamt? Später erwähnt die Mutter das Jugendamt. Felix wird gefragt, was los ist, was ihm in der Schule Probleme macht, aber er sagt nichts. Die Schulbegleiterin schlägt eine „Schule für autistische Kinder“ vor. Was ist mit Inklusion?

Zuhause will Felix seine Jacke haben. Die Mutter sagt, sie hat sie beim Jugendamt vergessen. Felix bekommt etwas, das wohl ein Meltdown sein soll. Ähnliches gab es schon vorher im Film. Auch da war es aus autistischer Sicht nicht wirklich plausibel dargestellt. Hier schreit er herum, wirft Dinge vom Tisch, versucht, sie zu schubsen und geht weite auf sie los. Sie hält ihn fest, schiebt ihn in sein Zimmer.

Autistic Realist: Ein Meltdown ist nie so offensiv. Eklig, diese Darstellung! Jemand im Meltdown verletzt nie gezielt. Jemand im Meltdown geht nicht jemandem hinterher. Felix dreht sich in der Szene weg, greift gezielt nach einem Gegenstand und schlägt ihr damit in einer sehr kontrolliert aussehenden Bewegung auf den Kopf. Sich vor dem Schlag einen Gegenstand zu nehmen, mit dem man größeren Schaden anrichten kann, sieht eher nach einem Gewaltverbrecher aus.

Ich: Puh, er ist aggressiv, und sie schließt ihn im Zimmer ein. Sie hatte ihn festgehalten; dass er sich wehrt, um da rauszukommen, wäre einleuchtend. Aber er macht ja auch alleine damit weiter.

Hier wird wohl wieder ein Meltdown mit einem Wutanfall verwechselt – wobei es auch sein kann, dass der Tag für ihn schon mehr als anstrengend war, mit dem Besuch beim Jugendamt, und das Fehlen der Jacke der letzte Tropfen war, der das Fass für ihn zum Überlaufen gebracht hatte.

Er hat sie am Kopf verletzt, sie fährt alleine ins Krankenhaus und lässt ihn alleine in seinem Zimmer eingeschlossen. Das ist unverantwortlich, weil er immer noch aufgebracht ist, sich möglicherweise selbst verletzt, und ohne Zugang zu Toilette und Getränken ist. Im Krankenhaus lässt sie sich behandeln, man will sie zur Beobachtung dabehalten, sie geht jedoch, weil sie Felix nicht so lange alleinlassen kann.

Autistic Realist: Wenn man so geschrien hat, dann sind normalerweise auch die Atemwege verletzt. Im Jugendamt hat er vielleicht noch Wasser bekommen, auf der Fahrt nach Hause aber sicher nicht und Zuhause war er mehrere Stunden allein. Trockene Atemwege allein können schon sehr unangenehm sein, wenn man sie sich aber vorher ausgeschrieen hat, kann es sehr stark brennen. Für den Zeitraum kann das also schon eine richtige Tortur gewesen sein.

Zuhause liegt Felix still auf dem Bett, er hat sich eingenässt.

Autistic Realist: Wenns realistisch ist, ist er jetzt schwer traumatisiert.

Ich: Was realistisch ist, ist, dass er vielleicht schon vorher traumatisiert war. Weil Kinder ihn gepiesackt haben. Weil Lehrer ihn loswerden wollten. Und all der Schmerz und die Abwehr spielt mit rein, wenn er die Fassung verliert. Vielleicht erwartet er ja, dass er bei einem Meltdown festgehalten wird, und wehrt sich dann schon prophylaktisch.

Gespräch mit der Schulpsychologin. Sie fragt Felix, um den Problemen auf den Grund zu gehen, aber Felix schweigt die meiste Zeit.

Ich: Sie fragt „wie es dir in der schule gefällt“ – das ist viel zu allgemein. Die Mutter kapiert, dass man konkreter fragen muss.

Die Mutter wird rausgeschickt, weil die Schulpsychologin mit Felix allein reden will. Auf dem Flur fällt die Mutter ohnmächtig zu Boden. Felix findet sie und rennt weg.

Am Ende des Films ist die Mutter allein. Man sieht sie beim Joggen, man sieht sie zuhause, man sieht sie bei der Arbeit im Fischrestaurant. Felix ist nicht bei ihr, ist anscheinend im Heim, sie sucht Kontakt, er meldet sich nicht. Erst am Ende ruft er sie an, und sie weint vor Freude.

Ich möchte zusammenfassen:

Wir haben den ganzen Film über wenig Gespräche zwischen Felix und der Mutter gesehen. Wo sie ihm die Welt erklärt hat, oder ihn ausgefragt hat nach den Dingen, die ihn interessieren. Und deshalb haben sie jetzt auch keine Übung darin, diese schreckliche Situation zu besprechen.

Autistic Realist: Sie hat absolut darin versagt, ihm zu erklären, wie man als Autist in der Welt überlebt. wann man seinen Instinkten folgt und wann nicht. Immer nur Anweisungen, manchmal fast schon Kommandos, aber nie Erklärungen. WIE soll er so lernen auf seine eigenen Bedürfnisse zu achten? Wie soll er so alleine zurecht kommen?

Ich: Dass Felix immer so still dasitzt und nichts sagt, das ist dieses „eigene Welt“-Klischee.

Wir haben ja die ganze Zeit das Verhalten von Felix analysiert, wie er sich verhält, warum er sich so verhält, und ob die Reaktionen seiner Umwelt sinnvoll sind oder nicht. Und haben uns immer wieder gewundert, dass er so plötzlich explodiert. Dass er so aggressiv reagiert. Dass er zwar in sich gekehrt ist, aber man kein Stimming sieht.

Aber vielleicht ist es auch völlig sinnlos, dass wir versuchen, sein Verhalten unter autistisch sinnvollen Aspekten zu verstehen. Vielleicht ist er nur die Nebenfigur, die nötig ist, damit seine Mutter ihre aufopferungsvolle Rolle spielen kann.

Autistic Realist: Der Film ist mutterzentriert, mal wieder.

Ich: Das ist im Prinzip nicht verboten, wenn es denn die richtige Botschaft bringt, und nicht irgendwelchen Quatsch.

Aber Darstellungen von Autismus aus der Sicht (nichtautistischer) Eltern sind generell schon zu häufig, und es bräuchte in solchen Formaten und besonders auch in Dokus und Berichten mehr Darstellungen von Autismus aus der Sicht der Autisten selbst.

Ich hatte ja am Anfang gedacht, die Mutter hat jedenfalls ein bisschen Ahnung, und wenn jetzt die Schulbegleiterin auch noch was taugt, dann rocken die den Film. Und erklären nebenbei noch was Gutes über Autismus.

Man kann darüber reden, wie solche Versuche, Inklusion zu unterlaufen (wie hier durch die Schule), Eltern in den Ruin treiben können. Das hätte man hier mit wenigen Veränderungen machen können. Man hat es nicht getan.

Man hätte ein autistisches Kind den Felix spielen lassen können. Oder einen autistischen Coach einstellen, der ihm zeigt, wie Stimming bei Freude und bei Stress aussieht. Man hat es nicht getan.

Man hätte die Mutter einer Vertrauensperson (Pelle oder der Schulbegleiterin z.B.) erklären lassen sollen, wie die Schule die Probleme verschärft, durch ihre Einstellung zu Felix und die Art, wie sie ihn zu kontrollieren versucht, statt mitzuhelfen, die Probleme abzubauen. Felix‘ Mutter hätte erklären können, wie sehr es sie belastet, dass überall ihr die Schuld für eine angeborene Behinderung gegeben wird, und dass sie nicht zuverlässig arbeiten und Geld verdienen kann, solange das Hilfesystem Eltern wie sie im Stich lässt. Sie hätte klarmachen können, dass nicht Felix das Problem, die Belastung ist, sondern ein System, das sich weigert, ihm zu geben, was ihm zusteht.

Man hat es nicht gemacht.

So hat man hier einerseits einen Film, in dem ich mich als Mutter eines autistischen Kindes, die für Inklusion kämpft, wiederfinden kann. In dem andererseits genau so nachdrücklich auch die Lehrer und anderen Eltern zu Wort kommen, die Felix als das Problem sehen und ihn aus der Regelschule raushaben wollen.

Und so bleibt am Ende offen, ob die Zuschauer die Mutter wie ich als tragische Figur sehen, die an einem ungerechten System gescheitert ist. Oder ob die Vertreter des Systems doch recht hatten, Felix für seine Mutter eine Last und Gefahr und im „Sondersystem“ doch besser aufgehoben ist. Und das wäre fatal.

Also: Leider, wie zu oft, ein Film über Autismus, den ich nicht wirklich empfehlen kann.

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