Wie rede ich mit dem Kind über Politik?

Wie rede ich mit dem Kind über Politik?
Wie rede ich mit dem Kind über Politik, wenn es selbst davon betroffen ist?

Ich habe dem Kind schon die verschiedenen Parteien erklärt, was so die typischen Ziele sind.

Auch, dass es eine Partei gibt, deren Programm man kurz gefasst mit „Die Ausländer sind an allem schuld“ beschreiben kann – Ihr könnt Euch denken, welche ich meine.

Über Politik zu sprechen war für uns relativ safe – es betraf andere. Und natürlich ist es wichtig, da fair zu sein.

Wie sage ich dem Kind, dass diese Partei auch gegen ihn ist?
Wie sage ich dem Kind, dass diese Partei nicht will, dass er aufs Gymnasium geht? Und auch nicht auf die Realschule, Hauptschule oder Gesamtschule? Dass eine Förderschule genug für ihn sein soll?

Wie sage ich dem Kind, dass es Menschen gibt, die nicht mit der Antwort zufrieden sind, dass er manche Dinge richtig gut kann und andere nicht? Dass es Menschen gibt, für die nur das zählt, was er nicht kann?

Wie sage ich dem Kind, dass sein Autismus eine Behinderung ist, dass eine Behinderung nichts Schlimmes ist, sondern nur diese Mischung aus „manches gut, manches nicht können“ – wenn es für manche Menschen ein Grund ist, ihm seine Rechte zu beschneiden?

Wie sage ich dem Kind, dass die Partei, die das fordert, von immer mehr Menschen gewählt wird, dass ihre Ziele von immer mehr Parteien aufgegriffen werden, und dass wir hier Angst haben, dass sie an der nächsten Regierung beteiligt ist, und sie ihre Ziele umsetzen kann?

Wie sage ich das alles dem Kind so, dass es das nicht nur versteht (das wird es, daran zweifele ich nicht), sondern dass es es daran nicht zerbricht? Dass es glücklich bleiben kann, es selbst bleiben, ohne Angst vor negativen Konsequenzen, selbstbewusst mit dem, was es kann?

Ich weiß, wir sind privilegiert, weil ich „das Gespräch“ so lange aufschieben konnte.
Ich weiß, wie früh z.B. von Rassismus Betroffene mit ihren Kindern „das Gespräch“ haben müssen, damit die Kinder nicht in Lebensgefahr geraten.

Ich hatte nur gedacht, wir hätten noch länger Zeit.

Die psychische Gesundheit meines Kindes zu schützen war immer mein oberstes Ziel – früher schon, und jetzt mit der Autismus-Diagnose noch viel mehr. Ich weiß, wie hoch das Risiko für Burnout, Depressionen, Suizidalität bei Autisten ist. Und ich sehe es an Leuten in meiner Bubble.

Also:
Wie sage ich dem Kind, was auf dem Spiel steht, auch für es selbst, ohne ihm zu schaden, und ohne zu lügen?


Diesen Text habe ich zuerst als Bluesky-Thread veröffentlicht.

Der ATEC – oder wie man Autismus nicht testen sollte

Ich bin gerade bei der Recherche nach etwas anderem auf den „Autism Treatment Evaluation Test“ gestoßen und habe ihn mir mal etwas genauer angeschaut (eine deutsche Fassung als interaktiven Test gibt es hier; die Seite ist aber nicht empfehlenswert).

Ein Faktor, der schon skeptisch machen sollte, ist, dass er 1999 von Bernard Rimland mitentwickelt wurde. Rimland ist sicher auch noch mal ein eigenes Thema, es sei hier nur kurz gesagt, dass er für allerhand Schwurbel steht.

Der „Autism Treatment Evaluation Test“ (ATEC) selbst fragt 77 Punkte aus vier verschiedenen Bereichen ab. Und dabei fällt auf, dass einige offenbar Anderes als Autismus-Symptome betreffen, und einige aus moderner Perspektive vermutlich anders bewertet werden als noch 1999 durch Rimland.

Ich ziehe nur einige heraus.

Fast der ganze Abschnitt I (Kommunikation) und IV 1-3 (1. Bettnässen, 2. Nässt in Hose/ Windel, Kotet in Hose / Windel) betrifft Dinge, die bei nichtautistischen Kindern zur ganz normalen Entwicklung gehört. Bei autistischen Kindern kann es da Schwierigkeiten geben, die diese Entwicklung generell hemmen. So kann Apraxie das Sprechenlernen verhindern, oder Probleme bei der Interozeption das Trockenwerden. Aber abgesehen von diesen Fällen gibt es bei autistischen Kindern auch ohne Therapien eine Entwicklung in diesen Bereichen. Eine Verbesserung in diesen Bereichen muss also nicht auf einen Erfolg einer „Therapie“ hinweisen.

I. 4. Unkooperativ und widerspenstig und I. 14. Unangenehm / nicht folgsam

Ob ein Kind kooperiert, ist von mehreren Faktoren abhängig – zunächst einmal davon, ob es die von ihm verlangte Aufgabe überhaupt erfüllen kann. Ein wichtiger Faktor ist aber auch, ob das Kind den Eindruck hat, dass im Gegenzug auch seine eigenen Bedürfnisse berücksichtigt werden. Wer immer wieder über seine eigenen Grenzen gehen muss, um Erwartungen zu erfüllen, ohne dass das gewürdigt wird oder die Erwachsenen auch ihm entgegenkommen, wird seine Bemühungen irgendwann einstellen und vielleicht sogar anfangen zu provozieren.

Berücksichtigt werden sollte auch, wann diese Feststellung getroffen wird. Nicht umsonst wird das Alter von etwa 2-3 Jahren auch als „Trotzphase“ bezeichnet. Unkooperatives und widerspenstiges Verhalten gehört in dieser Zeit zur ganz normalen Entwicklung.

IV. 16. Unglücklich / weint

Wenn ein Kind oft unglücklich ist und weint, dann hat das zunächst nichts mit Autismus zu tun. Sondern damit, dass die Umstände nicht gut sind für das Kind.

IV. 17. Krampfanfälle

Epilepsie kommt zwar bei Autisten offenbar häufiger vor als bei Nichtautisten, und anscheinend werden Symptome von beidem gelegentlich auch verwechselt, Epilepsie ist aber eine vollständig andere Diagnose als Autismus.

IV. 4. Durchfall und V. 5. Verstopfung

Auch keine Autismussymptome. Und bevor jetzt jemand mit Mikrobiom-Studien kommt: Es gibt da eine Studie, die ziemlich klar herausgearbeitet hat, dass die scheinbare Beziehung zwischen Autismus und Mikrobiom nur Korrelation ist, und ein einseitiges Mikrobiom indirekt über Autismus-typisches einseitiges Essverhalten durch den Autismus verursacht werden kann.

Kommen wir zu den Punkten, die heute anders bewertet werden als 1999.

Inzwischen haben sich Autisten selbst dazu geäußert, wie sie bestimmte typische Autismus-Symptome empfinden. Und es wird immer deutlicher, dass manche scheinbaren Defizite eher neutral als Differenz betrachtet werden sollten, und manche Symptome einen eigenen Sinn haben.

Therapien, die an diesen Punkten ansetzen, und die Verringerung dieser Symptome als Ziel haben, können Autisten also sogar schaden. Dadurch, dass sie ständig Energie aufwenden müssen, um nichtautistische Erwartungen an ihr Verhalten zu erfüllen. Und dadurch, dass ihnen Verhaltensweisen genommen werden, die ihnen helfen würden.

Um die Anpassung an nichtautistische Erwartungen geht es in diesen Punkten:
I. 13. Führt ziemlich gute Gespräche
III. 6. Spielt angemessen mit Spielzeug
III. 7. Angemessene Gesichtsausdrücke

Wer bewertet, was „gute Gespräche“ sind? Was „angemessenes Spiel“ ist, oder „angemessene Gesichtsausdrücke“?

IV. 14. Geräuschempfindlich

Geräuschempfindlichkeit kann man nicht abtrainieren. Man kann einem Kind nur antrainieren, die Empfindlichkeit nicht zu zeigen und sich lauten Situationen nicht zu entziehen. Man tut ihm damit aber keinen Gefallen.

II. 5. Kein Augenkontakt

Blickkontakt wird von manchen Autisten als unangenehm, teils sogar schmerzhaft beschrieben, fast alle geben an, dass Blickkontakt es ihnen schwerer macht, sich an einer Unterhaltung zu beteiligen.

IV. 19. Starre Routinen und IV. 21. Verlangt Gleichförmigkeit

Routinen helfen bei exekutiver Dysfunktion, komplexe Abläufe zu bewältigen. Und sie helfen, die sensorische und soziale Belastung im Tagesablauf besser einschätzen zu können.

IV. 24. Fixiert auf bestimmte Gegenstände / Themen

Die Beschäftigung mit Spezialinteressen wird von Autisten als erholsam beschrieben. Und was dadurch erlernt wird, kann durchaus auch im weiteren Leben von Vorteil sein.

IV. 25. Wiederholte Bewegungen

Stimming ist einerseits Gefühlsausdruck und hilft andererseits bei der Selbstregulation.

Nach all diesen Punkten bin ich skeptisch, wenn dieser Test herangezogen wird, um die Wirksamkeit einer bestimmten „Therapie“ zu überprüfen. Eine Verringerung in der Punktzahl im Vorher-Nachher-Vergleich kann nicht als Beleg verstanden werden, dass die „Therapie“ Autismus „heilt“. Und schon gar nicht, dass es dem Kind nach der „Therapie“ besser geht als vorher.


Der Text ist auch als Thread auf Bluesky veröffentlicht worden.

Geschlechtsorgane, Gameten und die Anti-Woken

Und weiter geht es mit der Fortsetzung zu meinem Kommentar zu dem „Anti-Woke“-Artikel beim Humanistischen Pressedienst.

In einem weiteren Abschnitt geht es um die Frage: Gibt es mehr als zwei Geschlechter?

Und ich muss gestehen, ich lehne mich da gannnz weit aus dem Fenster, denn ich bin weder Biologin, noch so ganz sattelfest in dem, was Gender- und Trans-Themen anbelangt. Ich versuche aber, das, was ich an Argumenten gelesen habe, so gut wie möglich zusammenzufassen.

Okay.

Vorweg: Wenn hier von „biologischem Geschlecht“ die Rede ist, dann lese ich das in etwa gleichbedeutend mit dem Begriff „sex„, der in den Gender studies dem Begriff „gender“ entgegengesetzt ist. „Sex“ bezieht sich vereinfacht gesagt auf das Körperliche, während sich „gender“ auf das Soziale bezieht.

Wenn wir im Alltag Annahmen darüber treffen müssen, ob jemand ein Mann oder eine Frau ist, dann geschieht das meist anhand von Kriterien wie Name oder Kleidung und Frisur – zugegebenermaßen eher unscharfe Kriterien. Oder wir fragen oder schauen – wie z.B. auf Bluesky – in die Bio der Person.

Wenn wir Aussagen über die Körper machen wollen, und das dann auch noch wissenschaftlich, geht doch nichts über trennscharfe Definitionen, über die sich alle einig sind, oder?

Welche Definition aber gilt dann nun, wenn wir über das „biologische Geschlecht“ sprechen? Welches Kriterium soll den Ausschlag geben?

Nun, das Kriterium, das bei den meisten von uns als erstes angewandt wird, und das bei manchen von uns auch das einzige bleiben wird, das bekannt ist, ist das Vorhandensein von entweder Penis oder Vagina. Nach diesen Kriterien entscheidet der Arzt nach der Geburt, ob er sagt „Es ist ein Mädchen“, oder „Es ist ein Junge“. Nach diesen Kriterien kommt der Eintrag in die Geburtsurkunde zustande.

Der Autor des hier betrachteten Artikels legt ein anderes Kriterium an: das Vorhandensein entweder von Samen- oder Eizellen.

Das ist schon schwieriger – Eizellen bekommt man so gut wie nie zu Gesicht. Und welcher Zeitpunkt ist gemeint? Das biologische Geschlecht soll ja schon ab der Geburt gelten, zu einem Zeitpunkt, an dem noch weder Samenzellen noch Eizellen gebildet werden. Und manchmal müssen aufgrund einer Erkrankung z.B. vorhandene Eierstöcke entfernt werden. Je nach dem Zeitpunkt dieser Entfernung werden vielleicht niemals Eizellen gebildet werden.

Sehr häufig lese ich aber von denjenigen, die sich bei Diskussionen über trans Rechte auf das „biologische Geschlecht“ beziehen, eine andere Definition: Frauen seien die mit zwei X-Chromosomen, Männer die mit XY-Chromosomen.

Und dann darf man den Hormonstatus nicht vernachlässigen; er hat einen wichtigen Einfluss darauf, wie der Körper sich entwickelt, nicht nur während der Pubertät, sondern auch schon vor der Geburt.

Wie einfach wäre es doch, wenn das jetzt in allen Fällen eindeutig wäre:

  • Biologische Männer mit Penis, Spermien, XY-Chromosomen und Testosteron.
  • Biologische Frauen mit Vagina, Eizellen, XX-Chromosomen und Östrogen.

Ist aber nicht so.

  • Es gibt Babys, bei denen nicht entweder Penis oder Vagina vorhanden sind.
  • Es gibt Menschen, bei denen die Entwicklung der Keimdrüsen irregulär verlaufen ist, die vielleicht unfruchtbar sind.
  • Es gibt Varianten bei den Geschlechtschromosomen.
  • Und Varianten bei der hormonalen Entwicklung.

Und das alles in beliebigen Kombinationen.

Nehmen wir mal eine Geschichte, die ich vor ein paar Jahren mitbekommen hatte, als eine Bekannte von ihrem unerfüllten Kinderwunsch erzählte.

Da hatte sich erst nach mehrern erfolglosen künstlichen Befruchtungen herausgestellt, dass der Mann das Klinefelter-Syndrom hat. Und das hat für ihn leider auch bedeutet, dass er unfruchtbar war.

Wenden wir unsere Kriterien mal auf diesen Fall an:

  • Ein Penis ist vorhanden – ohne den Kinderwunsch wäre das Klinefelter-Syndrom bei ihm nie aufgefallen.
  • Spermien wurden gebildet, aber offenbar irregulär. Manche Menschen mit Klinefelter-Syndrom sind komplett unfruchtbar, manche nicht komplett.
  • Die Chromosomen sind weder XX noch XY.
  • Der Testosteronspiegel ist meist niedriger als erwartet.

Nach einigen der Kriterien wäre er also ein Mann, nach anderen – insbesondere nach dem Chromosomen-Kriterium – wäre er aber keiner, sondern inter.

Wir haben also für „biologisch weiblich“/ „biologisch männlich“ mehrere konkurrierende Definitionen, die die Grenze jeweils etwas anders ziehen, und wo je nachdem andere Personen in eine Art Niemandsland landen, insbesondere dann, wenn man streng sein und alle Defintionen gleichzeitig anwenden will.

Während ich hier die Probleme mit diesen Definitionen beschreibe, kommt mir eine Art Sinnbild in den Kopf:

Ein großes Bild, auf der einen Seite eine große Fläche Schwarz, auf der anderen Seite eine große Fläche Weiß. Von weitem wirkt es ein bisschen, als ob es zwischen den beiden Flächen ein bisschen flimmert, als ob es ein bisschen unscharf wäre.

Wer näher kommt, sieht, was dieses Flimmern ist: verschiedene Grautöne, und auch andere Farben, die von weitem zu diesem flimmrigen Grau verschmelzen. Und was als Schwarz erschien, oder Weiß, hat Bereiche, die zwar hell oder dunkel genug sind, um von Weitem für Weiß oder Schwarz gehalten zu werden. Von nahem sieht man aber die Abstufungen.

Ich kann verstehen, warum man annehmen kann, dass das Bild nur zwei Farben hat. Aber bei dieser Aussage zu bleiben, wenn man um die Zwischentöne weiß, das ist für mich unredlich.

Und genauso ist es wissenschaftlich nicht sauber, Komplexität nicht ernst zu nehmen, wenn sie der eigenen Prämisse nicht entspricht. Oder als unwissenschaftlich zu bezeichnen, was diese Komplexität berücksichtigt.


Diesen Text gibt es auch als Bluesky-Thread.

Der Widerstand der „Anti-Woken“

Es ist 2023. Die ganze GWUP ist von den „Woken“ besetzt.

Die ganze GWUP?

Nein, ein paar Unbeugsame hören nicht auf, den „Woken“ Widerstand zu leisten.

So heldenhaft sehen sie sich zumindest selbst.

Im „Humanistischen Pressedienst“, anscheneind das Äquivalent des kleinen gallischen Dorfes, ist vor zwei Wochen schon ein Text erschienen, der voll ist von diesem unermüdlichen Widerstandsgeist.

Und ich denke, wie kann man sich nur so blamieren!

Ganz ehrlich, manche Teile des Artikel lassen mich an jemanden denken, der empört von Pseudowissenschaft spricht, wenn er liest, dass die Summe der Winkel in einem Dreieck auch mehr als 180 Grad betragen könne – und damit offenbart, dass er noch nicht von nicht-euklidischer Geometrie gehört hat.

Ich hatte einen Text geplant, der sich mit dem verlinkten Artikel auseinandersetzen soll. Die ganze Auseinandersetzung um das Thema „Woke“ in der GWUP ist ja auch unter dem Gesichtspunkt der Auseinandersetzung um das Thema ABA (Applied Behavior Analysis) zu sehen, zu dem in der GWUP-Vereinszeitschrift vor ca. einem Jahr drei Artikel erschienen waren. Deshalb verwende ich hier auch den Hashtag #GWUPGate, auch wenn sich die Haltung der Mehrheit des Vereins zum Thema möglicherweise mittlerweile gedreht hat.

Auch die Kritik an ABA, wie sie von der autistischen Community, von Behindertenrechtsaktivisten und zunehmend auch von der Autismusforschung selbst geübt wird, fällt ja in den Bereich der „Critical Studies“ und gehört damit zu dem, was hier als „woke“ kritisiert wird.

Der geplante Text war aber schon nach kurzer Zeit so lang, dass ich beschlossen habe, ihn aufzuteilen. Dieser erste Teil geht auf den Begriff „woke“ ein, weitere Teile werden sich mit mit der Frage nach der Zahl der Geschlechter, mit „mātauranga Māori“, dem „Wissen der Maori“, dem Nahost-Konflikt und einem Buch der Philosophin Susan Neiman beschäftigen.


Nun also zum Thema „woke“:

Der Autor des oben verlinkten Artikels, „Florian Schwarz“ (ein Pseudonym) kritisiert das „Weltbild der Wokeness“. Er identifiziert sie mit den „Critical Studies“ und lässt es insgesamt so wirken, als sei „woke“ zumindest zunächst eine Selbstbezeichnung einer bestimmten Gruppe von Aktivisten.

Die Begriffsgeschichte von „woke“ ist aber unvollständig, wenn nicht darauf hingewiesen wird, dass es nur eine kurze Phase war, in der das Wort, das ursprünglich unter Schwarzen verwendet wurde, eine breitere Bedeutung als Wachsamkeit gegen systemische Ungerechtigkeit allgemein bekam.

Denn fast gleichzeitig wurde der Begriff auch von rechten Kommentatoren zur Verspottung von solchem Aktivismus eingesetzt. Und daraufhin von Linken auch schon mehr oder weniger wieder fallengelassen.

In meinem Umfeld spielt der Begriff „woke“ eigentlich keine Rolle mehr. Niemand, den ich kenne, bezeichnet sich selbst als „woke“ – allenfalls ironisch gebrochen, etwa, um zu erklären: Ich gehöre zu denen, die User XY als „woken Mob“ bezeichnet hat.

Zum Begriff „woke“ und seiner Geschichte:

Wer mag, kann – so wie ich – selbst mal auf Bluesky nach dem Begriff „wokeness“ suchen. Der Begriff „woke“ selbst ist für eine Suche nicht gut geeignet, weil die meisten Suchergebnisse sich auf „woke up“, also das Aufwachen im wörtlichen, nicht im übertragenen Sinne beziehen.

Bei mir kamen bei der Suche nach „wokeness“ praktisch ausschließlich entweder Suchergebnisse, die sich auf die Kritik an „wokeness“ bezogen, teils auch solche Kritk selbst, teils auch Erwähnungen des Begriffs, die ihn ironisch übertreiben. Einige wenige Ergebnisse sind nicht klar einzuordnen. In keinem Fall wurde der Begriff ernsthaft als Selbstbezeichnung benutzt oder dazu, andere Aktivisten anzuspornen.

Wer also 2023 einen Artikel schreibt über „Wokeness“ als „Weltbild“, der macht auf mich nicht den Eindruck, als habe er sich aktuell wirklich mit gesellschaftskritischen Gruppen befasst. Der wirkt auf mich eher, als habe er sein „Wissen“ eher aus zweiter Hand, etwa aus denjenigen Texten rechter Autoren, in denen dieser Begriff benutzt wird, um Aktivismus verächtlich zu machen.

Und das lässt nichts Gutes erwarten in Bezug auf die Äußerungen zu den anderen Themen, die uns im Artikel des Humanistischen Pressedienstes noch erwarten.

Diesen Text habe ich zuerst als Bluesky-Thread geschrieben.

Wege zum Aktivismus

Jemand sprach auf Bluesky das Thema Aktivismus an. Und ich habe mit einem Thread darauf reagiert.

Ich würde sagen:

Es gibt auf der Welt Missstände und Ungerechtigkeiten, die von der Mehrheitsgesellschaft nicht ausreichend angegangen werden.

Dann braucht es Aktivismus.

Wenn ich jetzt nur über den Aktivismus der autistischen Community im weitesten Sinne sprechen sollte:

Da gibt es nicht „DEN“ Aktivismus.

Der Weg zum Aktivismus war z.T. unterschiedlich. Die Mittel und die Intensität sind auch unterschiedlich.

Manche von uns sind befreundet, manche von uns sind zerstritten, aber in vielem sind wir uns einig.

Zum Aktivismus entschließt man sich nicht eines Tages. Man hat ein Problem, und man merkt, dass es noch viele andere gibt mit dem gleichen Problem.

Man tauscht sich untereinander aus, gibt sich Tipps, versucht, gemeinsam herauszufinden, was hilft und was nicht.

Stellt fest, dass man auf Barrikaden stößt, die sich nicht mit ein paar gegenseitigen Tipps beseitigen lassen.

Stellt fest, dass es Dinge gibt, die ganz vielen Autisten schaden. Und versucht, die Welt so zu verbessern, dass es besser wird.

Ich werde mal über meinen Weg zum Aktivismus schreiben.

Vor mittlerweile fast vier Jahren bekam mein Sohn die Diagnose Autismus.

Meine Aufgabe als Mutter war nun, herauszufinden, was ich in meinem Umgang mit ihm verbessern kann, um bestehende Schwierigkeiten zu beseitigen und ihm ein gutes Leben zu ermöglichen.

Ich habe den Zugang zur autistischen Community gefunden und anhand ihres Erfahrungswissens Dinge im Umgang mit meinem Sohn umgestellt, die uns beiden gutgetan haben.

So weit, so gut; das ist alles noch auf der individuellen Ebene lösbar, und noch kein Aktivismus.

Ich habe auch entscheiden müssen, ob mein Sohn Autismustherapie bekommen soll, und wenn ja, welche. Ich habe mich belesen, um eine informierte Entscheidung treffen zu können, und bin auf ABA gestoßen. Und als Pädagogin, die sich auch viel mit Erziehungsfragen beschäftigt hat, war ich entsetzt.

Seitdem lese ich alles darüber, was ich finden kann. Erfahrungsberichte, aber auch wissenschaftliche Studien, sowohl kritische, als auch ABA-Studien selbst. Und habe bisher nichts gefunden, was meine Abneigung entkräften könnte.

Dabei wäre ich bereit, mich falsifizieren zu lassen. Ich warte immer noch auf die ABA-Studie, die sozusagen alles richtig macht. Die nicht die Dinge wegtrainiert, von denen Autisten sagen, dass sie hilfreich sind. Die nicht völlig oberflächlich mit „herausforderndem Verhalten“ umgeht. Die sich wirklich für die Gründe von Verhalten interessiert. Und zeigt, dass man das Erfahrungswissen der Autisten in die Planungen einbezieht.

Ich habe bisher nichts gefunden, das diese Kriterien erfüllt.

Ich habe mich mit anderen Eltern und mit erwachsenen Autisten ausgetauscht.

Ich habe festgestellt, dass erschreckend viele Autisten Burnout und Depressionen haben. Ich habe festgestellt, wie mühsam es für sie ist, sich gegen Vorurteile zu behaupten. Und was passiert, wenn jemand diese negative Haltung der Außenwelt verinnerlicht.

Ich will nicht, dass mein Sohn, so wie mein Freund, von sich denkt, „Ich bin falsch“. Ich will nicht, dass er sich selbst hasst, weil er die Erwartungen der anderen nicht erfüllt.

Ich habe gemerkt, wieviel Macht in der Art und Weise steckt, wie über Autisten gesprochen und geschrieben wird.

So viel vom in der Öffentlichkeit und leider auch noch in viel zu vielen wissenschaftlichen Publikationen verbreiteten Wissen ist veraltet.

Und zwar wirklich veraltet, von neueren Studien widerlegt.

Aber es wirkt weiter, es führt dazu, dass harmlose Eigenheiten und sogar Stärken als zu überwindende Defizite dargestellt werden. Und die wirklichen Probleme übersehen und Unterstützung verweigert.

Es führt dazu, dass z.T. Jugendämter Eltern zu Therapien drängen, die auf diesen veralteten Vorstellungen basieren, und die Eltern abwägen müssen, ob sie sich weigern, um Schaden vom Kind abzuwenden, oder Sanktionen des Jugendamtes riskieren.

Es führt dazu, dass Autisten in der Schule und am Arbeitsplatz Vorurteilen begegnen, und von ihnen einerseits verlangt wird, sich zusammenzureißen und anzupassen (was nicht auf Dauer funktioniert), und sie andererseits mit Herablassung behandelt werden.

Das Gleiche gilt übrigens auch für das Gesundheitssystem, wo Autisten auf vielfältige Barrieren stoßen und oft keine Hilfen bekommen.

Es führt letzten Endes zu einer drastisch verringerten Lebenserwartung bei Autisten, teils wegen besagter Barrieren, teils wegen Suizid.

Und da haben wir noch nicht einmal über die Probleme gesprochen, die nicht- oder wenig-sprechende Autisten besonders oft betreffen:

Therapien sind oft auch dann noch auf das Sprechenlernen fixiert, wenn sich keine wirklichen Erfolge zeigen, statt alternative oder ergänzende Kommunikationsmöglichkeiten (AAC) anzubieten, z.B. Talker. Sie enthalten damit nichtsprechende Autisten das Menschenrecht auf Kommunikation vor, mit alles daraus entstehenden negativen Folgen für die entsprechenden Autisten.

Autisten mit hohem Unterstützungsbedarf, darunter auch besonders nichtsprechende Autisten, haben ein hohes Risiko, in Pflegeeinrichtungen misshandelt zu werden. Sensorische Überlastung kann zu Versuchen führen, dieser Überlastung zu entkommen, und falls das nicht ermöglicht wird, zu Meltdowns. In der Folge werden diese Autisten dann allzu oft sediert und/ oder gewaltsam fixiert, was zu einem Teufelskreis aus sensorischer Überlastung, Meltdown, gewaltsamer Fixierung, daraus resultierender verstärkter sensorischer Überlastung und weiteren Meltdowns führt.

Und autistische Aktivisten fordern deshalb mit gutem Grund, dass diese Probleme angegangen werden, auch in der Forschung, statt wieder und wieder fragwürdige Studien mit „autistischen“ Mäusen, Nematoden, Fruchtfliegen oder Zebrafischen zu finanzieren.

Es geht also bei der Frage, wie mit Autisten umgegangen werden soll, buchstäblich um Menschenleben. Kein Wunder, dass manche von uns ungehalten sind.

Das bringt mich nochmal zum Punkt Heterogenität im Aktivismus.

Wir sind unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Möglichkeiten.

Manche sind Forscher; Autisten, die Autismus erforschen. Die im Beruf auf besondere Weise auf die Auswirkungen des veralteten Wissens und die daraus resultierenden Vorurteile stoßen. Die mit ihrer Forschung aktiv dazu beitragen, diese Vorurteile abzubauen, um damit letzten Ende allen Autisten zu helfen.

Manche sind in der Lage, diese Studien zu lesen und zu verstehen, und diese Erkenntnisse weiterzugeben; da sehe ich mich.

Manche bekommen diese Erkenntnisse aber auch nur aus zweiter oder dritter Hand zu lesen; natürlich wird manches dabei auch plakativ und im Detail nicht mehr ganz zutreffend. Manche sind aber auch untereinander besonders vernetzt und sammeln Erfahrungswissen.

Oder sie engagieren sich in einem anderen Bereich, z.B. im Bereich der schulischen Nachteilsausgleiche und dem ganzen Hilfesystem.

Alle diese Herangehensweisen sind wichtig.

Dann gibt es noch den Aspekt, wie lange jemand schon Aktivismus macht, und welche Erfahrungen er dabei gemacht hat.

Wer frisch dabei ist, hat vielleicht noch die Geduld, freundlich zu erklären.

Wer schon Jahre hinter sich hat, und immer wieder erlebt hat, wie Diskussionen sich im Kreis drehen, immer wieder die gleichen Argumente herausgekramt werden, um Autisten nicht ernstzunehmen, hat diese Geduld vielleicht nicht mehr.

Ich versuche es meistens freundlich, aber wenn ich bemerke, dass das Gegenüber überhaupt nicht auf Argumente eingeht und hartnäckig Vorurteile verbreitet, kann ich auch sauer werden. Andere sind aufgrund ihrer Erfahrungen schneller misstrauisch und werden schneller unfreundlich.

Ich kann es ihnen nicht verübeln, ich habe mittlerweile genug Diskussionen mitbekommen, in denen die Autisten nicht ernstgenommen wurden. Um Schutz vor Diskriminierung sollte man nicht nett bitten müssen, um gehört zu werden.

ABA und Functional Communication Training

ABA-Befürworter verweisen immer wieder darauf, dass ABA Kindern helfen können, Kommunizieren zu lernen. Ich hatte mich auf Twitter mal damit und mit der dafür relevanten ABA-Methode, Functional Communication Training (FCT) auseinandergesetzt:


Manche Kinder lernen mit ABA tatsächlich sprechen. Auch hier wäre zu fragen: Wegen ABA? Oder trotz ABA?

Logotherapie funktioniert auch ohne ABA-Verstärkerpläne. Und manche nichtsprechenden Kinder lernen auch von ganz allein sprechen, nur halt ein paar Jahre später als nichtautistische Kinder.

Und für manche Kinder erschwert ABA-Kommunikationstraining nur den Weg zu funktionierender Kommunikation. Wenn sie zusätzlich Apraxie haben, wird es ihnen immer schwer fallen, Worte mit dem Mund zu formen.

ABA konzentriert sich aber allzu oft darauf, Sprechen beizubringen, oder bietet mit PECS (Picture Exchange Communication System) nur einen eingeschränkten Fundus an Formulierungen an.

Bietet man den gleichen Kindern aber Zugang zu den fast unbegrenzten Möglichkeiten einer Talker-App oder anderen AAC-Geräten, zeigt sich meist, wie lange sie schon darauf gewartet haben, über das, was ihnen selbst wichtig ist, zu kommunizieren.

Wie es der Zufall will, habe ich gerade die Tage etwas zu ABA und Kommunikation gelesen. Es war der Abstract zu diesem Handbuch-Kapitel:

Rosales/ Garcia: Verbal Behavior and Applied Behavior Analysis; in: Handbook of Autism and Pervasive Developmental Disorder (S. 899-918), Edition: 1 (2022)

Ich bin dabei auf Begriffe gestoßen, die ich noch nicht kannte:
mands, tacts, echoics, intraverbals„.

Ich habe danach gesucht, und eine Seite gefunden, die sie nicht nur erklärt, sondern auch, wie z.B. „intraverbals“ mit ABA geübt werden sollen:

Teaching Intraverbals: How & When?

Und ich finde es grauenvoll.

Anscheinend gibt es eine Hierarchie zwischen den verschiedenen Kategorien.

  • mand“ ist ein Wunsch oder eine Aufforderung,
  • tacts“ das Benennen von etwas, das gerade sichtbar ist,
  • echoics“ das Nachsprechen eines Wortes oder Satzes, und
  • intraverbal“ alles, was mit einer Unterhaltung zu tun hat.

Und anscheinend sind Unterhaltungen erst dran, wenn das Kind die ersten drei Kategorien beherrscht, und der Therapeut außerdem Echolalie „im Griff hat“.

Die Übungen, die im Artikel genannt werden, sind entsetzlich dröge. Und ich kann verstehen, dass es da tütenweise Gummibären braucht, um das Kind bei der Stange zu halten. Das deutet sogar der Text selbst an:

Especially with intraverbal programs, it isn’t uncommon to see escape behaviors to get out of the demand.

Ähnliches schildern übrigens auch nichtsprechende Autisten, die jahrelang mit solchen Übungen traktiert wurden, ohne dadurch wirklich sprechen zu lernen, und die dann mit einem AAC-Gerät endlich zeigen konnten, was sie beschäftigt.

Dabei wäre es sinnvoll zu fragen, WARUM das Kind mit dem Verlangten bisher Schwierigkeiten hatte.

Der Text bringt Aussagen von Eltern über ihre Kinder. Sie haben etwas gemeinsam:

Screenshot aus dem verlinkten Text "Teaching intraverbals: How and when":

“She only uses language to ask for things, she isn’t conversational”
“He can greet his teacher by name every morning when I take him to school, but if I just randomly ask him: What’s your teachers name? he won’t say anything”
“He can sing the entire Barney song (“I love you”) while watching the videos, but if I ask him to sing it during bath time he just looks at me”
“She doesn’t participate when we play The Question Game during dinner. We all take turns answering questions like “Name a pink animal”, “Sing your favorite song”, and “What should we have for dessert”. I know she’s verbal, why does she refuse to answer these questions?”

Zunächst einmal scheint es um Kinder zu gehen, die mit der Sprechmotorik nicht grundsätzlich Probleme haben. Wenn das der Fall wäre, würde ich Logopädie und gerne auch ein AAC-Gerät empfehlen.

Bei den konkreten Beispielen geht es nicht darum, dass den Eltern etwas daran liegt, etwas von ihren Kindern zu lernen. Stattdessen fragen sie ab. Auf Kommando soll das Kind reproduzieren, den Namen des Lehrers, das Lied aus der Kindersendung, die Quizfragen beim Abendessen.

Ich würde das auch nicht wollen.

  • Warum sollte ich jemandem den Namen des Lehrers sagen, wenn er den kennt?
  • Warum sollte ich ein Lied singen, wenn mir nicht danach ist?
  • Warum sollte ich bei einem Spiel mitmachen, was mir nach „pädagogisch wertvoll“ riecht, mir aber keinen Spaß macht?

Vielleicht ist das Kind auch oft tief in Gedanken versunken, und die Fragen reißen es aus der Konzentration. So ein Aktivitätenwechsel ist für Autisten oft schwierig und unangenehm. Es gibt dazu einen sehr anschaulichen Comic, „Tendril Theory„.

Dazu kommen die geschilderten Situationen:

  • Vielleicht führt das Erinnern an Personen aus der Schule beim Kind dazu, dass die ganze sensorische Überlastung, die es in der Schule erlebt, plötzlich wieder präsent ist.
  • Vielleicht ist auch das Bad eine sensorische Herausforderung, im Positiven oder auch im Negativen. Egal, ob das Kind es genießt, mit dem Wasser zu spielen, oder es als unangenehm empfindet, es kann sein, dass daneben kein Platz im Kopf ist dafür, dem Elternteil etwas vorzusingen.
  • Auch das Essen mit der ganzen Familie kann eine sensorische Herausforderung sein. Geruch, Geschmack und Konsistenz von Nahrungsmitteln können für Autisten so belastend sein, dass sie eher eingeschränkt essen. Vielleicht gibt es durch Dyspraxie auch Probleme mit der Motorik, so dass der Umgang mit dem Besteck schon die ganze Konzentration fordert. Dazu kommt die Geräuschkulisse, klapperndes Geschirr, Kaugeräusche und dann dazu auch noch die Unterhaltung, an der das Kind sich auch noch beteiligen soll.

Aber, könnte man fragen, was kann man tun, als Gespräche zu üben?

Zunächst einmal die Themen sensorische Überlastung und Hyperfokus in Betracht ziehen. Also Gespräche nicht versuchen zu initiieren, wenn das Kind durch gegenwärtige oder vorhergehende Reize schon belastet ist.

Und nicht erwarten, dass das Kind „auf Knopfdruck“ funktioniert, wenn es sich gerade mit der Konzentration bei etwas ganz anderem befindet.

Außerdem die Echolalie nicht als etwas begreifen, das „unter Kontrolle gebracht werden“ muss. Echolalie ist u.a. eine autistische Methode, etwas zu verstehen, ob das Kind nun Fragen nachspricht oder ganze Youtube-Videos auswendig aufsagt. Echolalie kann auch Kommunikation sein, wenn der „aufgesagte“ Text assoziativ mit der Situation in Beziehung steht.

Eltern sollten versuchen, Anknüpfungspunkte für Gespräche da zu finden, wo das Interesse des Kindes ist. Bei Gegenständen, mit denen es spielt. Bei Dingen, die es zeigt. Bei Texten, die es aufsagt. Und dann nicht abfragen, sondern wirkliches Interesse zeigen, sowie Zusatzinformationen anbieten, die das Kind interessieren könnte. Wichtig ist es, Themen zu finden, die für das Kind relevant genug sind, um sich darüber auszutauschen. Dann wird es keine Gummibärchen brauchen, um das Kind bei der Stange zu halten. Stattdessen hat man die Beziehung zum Kind gestärkt und ihm gezeigt, dass auch seine Themen wichtig genug sind, um darüber zu sprechen.

Also, ja, es wird Kinder geben, die mit ABA sprechen lernen. Aber, so wie ich das sehe, nicht wegen, sondern trotz ABA.

Filmbesprechung: „Zwischen uns“

„Zwischen uns“ ist ein deutscher Kinofilm aus dem Jahr 2022. Er ist zur Zeit bei arte in der Mediathek, und Autistic Realist und ich, wir haben ihn uns angesehen, fleißig Notizen gemacht und später noch gemeinsam überarbeitet und ergänzt. (@AutisticRealis1 auf Twitter, @autisticrealist.bsky.social auf Bluesky).

Um unsere Kommentare einordnen zu können, habe ich den größten Teil der Handlung mit aufgeschrieben, der ganze Text ist also quasi ein einziger großer Spoiler.

Der größte Spoiler vorweg:

Der Film ist nicht wirklich zu empfehlen. Manche Situationen, die die Mutter erlebt, sind durchaus realistisch. Der Film versäumt aber die Gelegenheit, die Schwierigkeiten, die Mutter und Kind haben, adäquat einzuordnen.

Im Detail:

Felix und seine Mutter: Felix muss Gefühle auf Bildern erkennen üben – welche Therapie war das noch? Halte ich nicht für sinnvoll.

Runder Tisch oder Klassenkonferenz in der Schule: Die Mutter sagt, das Kind wird nicht von sich aus aggressiv, sie verlangt, dass ein anderes Kind Felix nicht bedrängt. Ich finde das sehr nachvollziehbar. Eine andere Mutter will Felix auf eine Förderschule abschieben.

Die ganze Situation wirkt sehr realistisch.

Felix wird eine Schulbegleitung bekommen. Das ist meiner Meinung nach unrealistisch, die meisten Eltern, von denen ich gehört habe, haben das extra beantragen und dann darum kämpfen müssen. Das ohne Antrag und ohne Kampf zu bekommen ist unrealistisch.

Die Schulbegleiterin bietet an, dass sie Felix auch abholen und zurückbringen kann; das wird später noch wichtig. Die Schulbegleitung sagt, das macht sie doch gerne, sie hätte aber auch sagen können, dass sie das als Arbeitszeit auch bezahlt bekommen kann. Das wär nämlich auch realistischer.

Später sitzt das Kind vor der Waschmaschine – Klischee…

Wieder wird die Mutter in die Schule zitiert. Das Kind ist weggelaufen, und keiner ist hinterher. Vielleicht hatte er einen Grund. Wird man hoffentlich erfahren.

Wir finden das Kind in einem Supermarkt. Es hat ein Lamm im Arm.

Autistic Realist: Wieso geht es in einen Supermarkt?! Welches autistische Kind flieht in einen Supermarkt? (Supermärkte sind für viele Autisten zu reizüberflutend, um sie länger aushalten zu können.)

Das ist hinter den Kulissen, wie es scheint, in einem Lagerrraum. Da wird es ruhiger sein, und er kennt den Mann da.

Mutter und Sohn spielen ein Spiel, und der Sohn überrascht mit Wissen über Tiere, besonders Fische.

Autistic Realist: Spezialinteresse Biologie. KEIN Klischee, das find ich gut.

Jetzt klärt sich, warum das Kind weggelaufen ist: weil es nassgespritzt wurde. Keine Ahnung, ob er versucht hatte, das mit Worten zu klären, wie ihn die Mutter ermahnt hat. Insgesamt ist Felix meist schweigsam und in sich gekehrt. Das ist nervig, aber zu diesem Zeitpunkt denke ich noch, dass es die Spannung erhöhen soll. Ich halte es für wahrscheinlich, dass er deutlich gesagt hat, dass er das nicht will, und die anderen (oder das andere Mädchen) weitergemacht haben.

Pelle, ein Freund der Mutter, will Felix mitnehmen in den Großmarkt, wo er beruflich zu tun hat.

Später Szene mit Mutter und Sohn.

Autistic Realist: Sie erklärt aber auch nie. Niemand erklärt ihm, wie man als Autist in einer nichtautistischen Welt überlebt. Sie erteilt immer nur Anweisungen oder stellt Regeln auf, ohne irgendwie zu erklären, warum das wichtig und sinnvoll ist.

Das Kind ist bisher vor allem verschlossen und einsilbig, Stimming hat man noch nicht von ihm gesehen.

Die Mutter ist bei der Arbeit im Supermarkt. Sie bekommt Ärger, weil Felix das Schaf mitgebracht hatte.

Felix in der Schule, in einem separaten Raum, mit der Schulbegleiterin.

Felix hat in der Schule eine Sanduhr als Timer, der anzeigt, wann er mit seiner Aufgabe aufhören und in die Klasse zurückkommen soll. Das ist nicht schlecht, aber die Schulbegleiterin hätte das mit dem Aufhören auch vorher ansagen können, und nicht sofort das Heft nehmen müssen. Wieder Meltdown, wieder Mutter in die Schule zitiert. Die Schulbegleiterin deckt ihn, hätte aber der Mutter die Wahrheit sagen sollen.

Die Mutter sagt, er soll den Gehörschutz absetzen, er soll ihr zuhören („Felix, kannst du mal die Dinger abmachen, bitte.“). Nicht gut. Nicht in einer Situation, in der er schon gestresst ist.

Autistic Realist: Die „Dinger“ werden ihn nicht daran hindern, Sprache zu verstehen.

Szene mit Mutter und Kind. Felix fragt seine Mutter etwas, und als sie nicht antwortet, wiederholt Felix immer wieder die Frage.

Autistic Realist: Sie sollte antworten. Ja, da braucht sie sich nicht zu wundern, wenn ER mal nicht antwortet.

Felix wird plötzlich wütend.

Ich: Er hat einen Meltdown, weil er gefragt hat und keine Antwort bekommen hat. Bzw. sie ihn dafür kritisiert hat.

Autistic Realist: Er reagiert eigenartig plötzlich. Und die Bewegungen sind völlig willkürlich. Er albert da nur irgendwie rum. Das wirkt teilweise fast, als würde man sich drüber lustig machen.Ein Meltdown ist ECHTE VERZWEIFLUNG und kein willkürliches Gezappel und Geschrei, man weiß einfach nicht mehr, wie man den Reizen entkommen soll, es soll einfach nur aufhören.

Ich: Wahrscheinlich ist der Schauspieler ein nichtautistisches Kind, und niemand im Team, der ihm das richtig zeigen kann. Vielleicht wird es später noch erklärt. Und so was Plötzliches kann ich mir vorstellen bei jemandem, dem die Stresssymptome, die dem vorausgehen, abtrainiert wurden. Aber dann wäre eben zumindest der „Ausbruch“ mit richtigerer Körpersprache.

Die Mutter erzählt: Sie ist gekündigt worden, weil sie immer wieder wegen Felix in die Schule musste.

Pelle hat Felix einen Fisch beim Großmarkt gekauft und zeigt ihm nun, wie man ihn zubereitet.

Autistic Realist: Ich find das sinnvoll. Das mit dem Großmarkt und dem Kochen üben.

Im Gespräch mit Pelle zeigt Felix Infodumping. Es tut gut, ihn über etwas reden zu hören, das ihn interessiert. Das kommt im ganzen Film sonst nicht mehr vor.

Später zeigt Pelle Felix, wie man tanzt, und alle drei tanzen. Sie haben auch Spaß zusammen. Sowas braucht man auch.

Die Mutter soll in der Gastronomie probearbeiten. Hoffentlich passt das besser mit Felix, seinen Schulzeiten und dem Aufpassen nachmittags und abends.

Szene in der Schule, Felix läuft aus dem Unterrichtsraum in ein Nebenzimmer, die Schulbegleiterin folgt ihm. Mein Gedanke: Felix ist überlastet. Die Schulbegleiterin sollte proaktiv schon Rausgehen vorschlagen, bevor er rauslaufen muss. Die Schulbegleiterin versucht, Felix zu beruhigen. Positiv: Sie versteht, dass es anstrengend ist, und alle ihn anpassen wollen.

Es ist aber ganz anders:

Mitschüler haben Felix die „blaue Karte“ gezeigt, und darum musste Felix die Klasse verlassen.

Diese „blaue Karte“ gibt es wirklich. Beschrieben wird sie hier in einem Artikel über einen autistischen Jungen, dessen individuelle Förderung vor Gericht erstritten werden musste:

Welt: Autistische Kinder haben Recht auf individuelle Förderung

Zitat:

„Doch dann kam es zu zwei Vorfällen, die alles veränderten. Einmal rauchte Sebastian, inzwischen 14, unerlaubt eine Zigarette, ein anderes Mal schlug er einen Mitschüler. Im ersten Fall empfanden die Eltern die Bestrafung als zu drastisch, auf den zweiten Vorfall reagierte die Schule damit, dass die Mitschüler Sebastian eine blaue Karte zeigen sollten, wann immer er aus ihrer Sicht die Grenzen überschritt.“

Was so eine „blaue Karte“ anrichten kann, wird in diesem Text beschrieben:

Inklusion, Recht auf Förderung und Förderschwerpunkte

Dass Mitschüler „blaue Karten“ an das autistische Kind in der Klasse verteilen, ist eine Ungleichbehandlung, bei der die anderen Schüler beim autistischen Schüler Macht haben, unliebsames Verhalten zu ahnden, bei anderen Schülern jedoch nicht. Das Verhalten des autistischen Schülers wird dadurch stärker kontrolliert und in der Folge auch härter sanktioniert. Zugleich öffnet so ein Hilfsmittel wie diese „blaue Karte“ Mobbing gegen den autistischen Schüler Tür und Tor.

Nächster Tag, Hinweg zur Schule: Felix wartet anscheinend mit der Schulbegleiterin an einer Haltestelle und läuft plötzlich weg, nach späterer Aussage der Schulbegleiterin wegen Lärm. Er läuft zum Großmarkt, versteckt sich im Transporter von Pelle und wird dort gefunden.

Die Mutter wird schon wieder in die Schule zitiert wegen Felix, weil er wieder weggelaufen war – oder ist es das Jugendamt? Später erwähnt die Mutter das Jugendamt. Felix wird gefragt, was los ist, was ihm in der Schule Probleme macht, aber er sagt nichts. Die Schulbegleiterin schlägt eine „Schule für autistische Kinder“ vor. Was ist mit Inklusion?

Zuhause will Felix seine Jacke haben. Die Mutter sagt, sie hat sie beim Jugendamt vergessen. Felix bekommt etwas, das wohl ein Meltdown sein soll. Ähnliches gab es schon vorher im Film. Auch da war es aus autistischer Sicht nicht wirklich plausibel dargestellt. Hier schreit er herum, wirft Dinge vom Tisch, versucht, sie zu schubsen und geht weite auf sie los. Sie hält ihn fest, schiebt ihn in sein Zimmer.

Autistic Realist: Ein Meltdown ist nie so offensiv. Eklig, diese Darstellung! Jemand im Meltdown verletzt nie gezielt. Jemand im Meltdown geht nicht jemandem hinterher. Felix dreht sich in der Szene weg, greift gezielt nach einem Gegenstand und schlägt ihr damit in einer sehr kontrolliert aussehenden Bewegung auf den Kopf. Sich vor dem Schlag einen Gegenstand zu nehmen, mit dem man größeren Schaden anrichten kann, sieht eher nach einem Gewaltverbrecher aus.

Ich: Puh, er ist aggressiv, und sie schließt ihn im Zimmer ein. Sie hatte ihn festgehalten; dass er sich wehrt, um da rauszukommen, wäre einleuchtend. Aber er macht ja auch alleine damit weiter.

Hier wird wohl wieder ein Meltdown mit einem Wutanfall verwechselt – wobei es auch sein kann, dass der Tag für ihn schon mehr als anstrengend war, mit dem Besuch beim Jugendamt, und das Fehlen der Jacke der letzte Tropfen war, der das Fass für ihn zum Überlaufen gebracht hatte.

Er hat sie am Kopf verletzt, sie fährt alleine ins Krankenhaus und lässt ihn alleine in seinem Zimmer eingeschlossen. Das ist unverantwortlich, weil er immer noch aufgebracht ist, sich möglicherweise selbst verletzt, und ohne Zugang zu Toilette und Getränken ist. Im Krankenhaus lässt sie sich behandeln, man will sie zur Beobachtung dabehalten, sie geht jedoch, weil sie Felix nicht so lange alleinlassen kann.

Autistic Realist: Wenn man so geschrien hat, dann sind normalerweise auch die Atemwege verletzt. Im Jugendamt hat er vielleicht noch Wasser bekommen, auf der Fahrt nach Hause aber sicher nicht und Zuhause war er mehrere Stunden allein. Trockene Atemwege allein können schon sehr unangenehm sein, wenn man sie sich aber vorher ausgeschrieen hat, kann es sehr stark brennen. Für den Zeitraum kann das also schon eine richtige Tortur gewesen sein.

Zuhause liegt Felix still auf dem Bett, er hat sich eingenässt.

Autistic Realist: Wenns realistisch ist, ist er jetzt schwer traumatisiert.

Ich: Was realistisch ist, ist, dass er vielleicht schon vorher traumatisiert war. Weil Kinder ihn gepiesackt haben. Weil Lehrer ihn loswerden wollten. Und all der Schmerz und die Abwehr spielt mit rein, wenn er die Fassung verliert. Vielleicht erwartet er ja, dass er bei einem Meltdown festgehalten wird, und wehrt sich dann schon prophylaktisch.

Gespräch mit der Schulpsychologin. Sie fragt Felix, um den Problemen auf den Grund zu gehen, aber Felix schweigt die meiste Zeit.

Ich: Sie fragt „wie es dir in der schule gefällt“ – das ist viel zu allgemein. Die Mutter kapiert, dass man konkreter fragen muss.

Die Mutter wird rausgeschickt, weil die Schulpsychologin mit Felix allein reden will. Auf dem Flur fällt die Mutter ohnmächtig zu Boden. Felix findet sie und rennt weg.

Am Ende des Films ist die Mutter allein. Man sieht sie beim Joggen, man sieht sie zuhause, man sieht sie bei der Arbeit im Fischrestaurant. Felix ist nicht bei ihr, ist anscheinend im Heim, sie sucht Kontakt, er meldet sich nicht. Erst am Ende ruft er sie an, und sie weint vor Freude.

Ich möchte zusammenfassen:

Wir haben den ganzen Film über wenig Gespräche zwischen Felix und der Mutter gesehen. Wo sie ihm die Welt erklärt hat, oder ihn ausgefragt hat nach den Dingen, die ihn interessieren. Und deshalb haben sie jetzt auch keine Übung darin, diese schreckliche Situation zu besprechen.

Autistic Realist: Sie hat absolut darin versagt, ihm zu erklären, wie man als Autist in der Welt überlebt. wann man seinen Instinkten folgt und wann nicht. Immer nur Anweisungen, manchmal fast schon Kommandos, aber nie Erklärungen. WIE soll er so lernen auf seine eigenen Bedürfnisse zu achten? Wie soll er so alleine zurecht kommen?

Ich: Dass Felix immer so still dasitzt und nichts sagt, das ist dieses „eigene Welt“-Klischee.

Wir haben ja die ganze Zeit das Verhalten von Felix analysiert, wie er sich verhält, warum er sich so verhält, und ob die Reaktionen seiner Umwelt sinnvoll sind oder nicht. Und haben uns immer wieder gewundert, dass er so plötzlich explodiert. Dass er so aggressiv reagiert. Dass er zwar in sich gekehrt ist, aber man kein Stimming sieht.

Aber vielleicht ist es auch völlig sinnlos, dass wir versuchen, sein Verhalten unter autistisch sinnvollen Aspekten zu verstehen. Vielleicht ist er nur die Nebenfigur, die nötig ist, damit seine Mutter ihre aufopferungsvolle Rolle spielen kann.

Autistic Realist: Der Film ist mutterzentriert, mal wieder.

Ich: Das ist im Prinzip nicht verboten, wenn es denn die richtige Botschaft bringt, und nicht irgendwelchen Quatsch.

Aber Darstellungen von Autismus aus der Sicht (nichtautistischer) Eltern sind generell schon zu häufig, und es bräuchte in solchen Formaten und besonders auch in Dokus und Berichten mehr Darstellungen von Autismus aus der Sicht der Autisten selbst.

Ich hatte ja am Anfang gedacht, die Mutter hat jedenfalls ein bisschen Ahnung, und wenn jetzt die Schulbegleiterin auch noch was taugt, dann rocken die den Film. Und erklären nebenbei noch was Gutes über Autismus.

Man kann darüber reden, wie solche Versuche, Inklusion zu unterlaufen (wie hier durch die Schule), Eltern in den Ruin treiben können. Das hätte man hier mit wenigen Veränderungen machen können. Man hat es nicht getan.

Man hätte ein autistisches Kind den Felix spielen lassen können. Oder einen autistischen Coach einstellen, der ihm zeigt, wie Stimming bei Freude und bei Stress aussieht. Man hat es nicht getan.

Man hätte die Mutter einer Vertrauensperson (Pelle oder der Schulbegleiterin z.B.) erklären lassen sollen, wie die Schule die Probleme verschärft, durch ihre Einstellung zu Felix und die Art, wie sie ihn zu kontrollieren versucht, statt mitzuhelfen, die Probleme abzubauen. Felix‘ Mutter hätte erklären können, wie sehr es sie belastet, dass überall ihr die Schuld für eine angeborene Behinderung gegeben wird, und dass sie nicht zuverlässig arbeiten und Geld verdienen kann, solange das Hilfesystem Eltern wie sie im Stich lässt. Sie hätte klarmachen können, dass nicht Felix das Problem, die Belastung ist, sondern ein System, das sich weigert, ihm zu geben, was ihm zusteht.

Man hat es nicht gemacht.

So hat man hier einerseits einen Film, in dem ich mich als Mutter eines autistischen Kindes, die für Inklusion kämpft, wiederfinden kann. In dem andererseits genau so nachdrücklich auch die Lehrer und anderen Eltern zu Wort kommen, die Felix als das Problem sehen und ihn aus der Regelschule raushaben wollen.

Und so bleibt am Ende offen, ob die Zuschauer die Mutter wie ich als tragische Figur sehen, die an einem ungerechten System gescheitert ist. Oder ob die Vertreter des Systems doch recht hatten, Felix für seine Mutter eine Last und Gefahr und im „Sondersystem“ doch besser aufgehoben ist. Und das wäre fatal.

Also: Leider, wie zu oft, ein Film über Autismus, den ich nicht wirklich empfehlen kann.

Ein Leserbrief. Eine Antwort. Und mein Kommentar.

In der aktuellen „Skeptiker“Ausgabe wird im „Leserforum“ das Thema ABA wieder aufgegriffen. Ich schaue mal, wie diesmal damit umgegangen wird.

Das Thema ABA wurde als Reaktion auf drei Artikel in der Skeptiker-Ausgabe vom Dezember 2022 heiß diskutiert (Stichwort #GWUPGate). Und ist, wie es scheint, eines der Themen, das zu einem heftigen Richtungsstreit unter den Mitgliedern der GWUP beigetragen hat.

Im Rahmen der damaligen Diskussion war den ABA-Kritikern auch angeboten worden, selbst einen Artikel oder Leserbrief einzureichen. Mit diesem Hinweis haben sich auch GWUP-Mitglieder einer Diskussion bei Twitter entzogen. Mir erscheint das nicht logisch – denn wer Artikel bei Twitter bewirbt bzw. lobt, sollte sich auch dort den Fragen stellen, was er zu Hinweisen auf massive Fehler in den beworbenen Artikeln denkt.

Eine Autorin hatte mittlerweile einen Artikel beim „Skeptiker“ eingereicht. Dieser ist von einem Gutachter abgelehnt worden – mit fadenscheinigen Gründen. Es scheint, als habe man keinen ABA-kritischen Artikel abdrucken wollen.

Ein kritischer Leserbrief ist nun tatsächlich abgedruckt worden – zusammen mit einer Entgegnung des kritisierten Autoren, in der dieser die Kritik zu entkräften versucht. Ich möchte beides mal auseinander nehmen.

Der Autor des Leserbriefs heißt Michael Valkenberg; er kritisiert den Artikel von Stuart Vyse aus der Dezember-Ausgabe. Er stellt drei aufeinander aufbauende Fragen:

  1. „Funktioniert“ ABA?
  2. Ist ABA nützlich?
  3. Ist ABA ethisch?
Screenshot aus dem Leserbrief:

1. Funktioniert ABA überhaupt? Das heißt, gibt es ausreichend Belege dafür, dass ABA zu einer dauerhaften gewünschten Veränderung im Verhalten autistischer Personen führt?

2. Wenn ABA funktioniert, ist es nützlich? Damit meine ich die Frage, ob die positiven Effekte die 
möglichen negativen Folgen überwiegen. (Sollte ABA nicht funktionieren, erübrigt sich diese Frage
natürlich.

3. Selbst wenn ABA nützlich ist, ist der Einsatz ethisch? Hier muss man über Dinge wie Patientenrechte und Menschenwürde nachdenken.

Valkenberg versucht jetzt nicht, die Antworten auf diese Fragen selbständig zu finden und mit unabhängigen Quellen zu belegen, ob ABA nützlich oder ethisch ist. Er geht stattdessen den Weg, den Artikel von Vyse auf Antworten auf diese Fragen abzuklopfen. Das finde ich insofern einen guten Schachzug, weil der „Skeptiker“ diesen Artikel ja publiziert hat, insofern dessen Aussagen vermutlich nicht grundsätzlich in Frage stellen wird.

Als Antwort auf die erste Fragen („Funktioniert“ ABA?) findet Valkenberg im Artikel: Vielleicht, aber die Evidenz ist schlecht.

Als Antwort auf die zweite Frage erkennt er die Kritik an, die Vyse selbst im Artikel an drei ABA-kritischen Studien übt, kritisiert dann aber selbst, dass ABA-Studien die Frage nach negativen Folgen bisher ignorieren.

Und zur dritten Frage weist er darauf hin, dass Vyse auch die Kritik derjenigen verschweigt, die selbst ihre Erfahrungen mit ABA gemacht haben.

Insgesamt finde ich den Leserbrief sehr gut; er macht auf problematische Verzerrungen und Auslassungen im Artikel von Vyse aufmerksam.


Schauen wir auf die Anwort von Vyse; schauen wir, ob er es schafft, die Kritik zu entkräften.

Sie ist doppelt so lang, und – Spoiler – schafft es trotzdem nicht.

Vyse folgt der Gliederung des Leserbriefs mit seinen drei Fragen.


In seiner Antwort auf die erste Frage zitiert er das Cochrane Review von 2018 (Early intensive behavioral intervention (EIBI) for young children with autism spectrum disorders (ASD)). Und, tut mir leid, selbst das, was Vyse schreibt, ist nicht geeignet, mein Vertrauen in die ABA-Forschung zu erhöhen.

Aus der Zusammenfassung der Autoren:

Screenshot aus dem Abstract des Cochrane Reviews 2018:

Authors' conclusions

There is weak evidence that EIBI may be an effective behavioral treatment for some children with ASD; the strength of the evidence in this review is limited because it mostly comes from small studies that are not of the optimum design. Due to the inclusion of non‐randomized studies, there is a high risk of bias and we rated the overall quality of evidence as 'low' or 'very low' using the GRADE system, meaning further research is very likely to have an important impact on our confidence in the estimate of effect and is likely to change the estimate.

Das Cochrane Review ist eine Metastudie, d.h. eine Studie, bei der schon vorhandene Studien ausgewertet werden, die nach bestimmten Qualitätskriterien ausgewählt werden. Dazu gehört normalerweise, dass es eine größere Menge an Probanden gab, die per Zufall einer Test- und einer Kontrollgruppe zugeteilt wurden, von denen erstere die Behandlung erhält, letztere jedoch nicht. Nur so kann unterschieden werden, ob eventuelle Verbesserungen durch die Behandlung kommen, und welche durch andere Faktoren.

Das Cochrane Review von 2018 hat für ABA eine(!) solche randomisierte Kontroll-Studie gefunden. In die Auswertung fließen außerdem noch vier Studien ein, die zwat eine Kontrollgruppe haben, bei der aber anscheinend die Zuweisung zu den Gruppen nicht zufällig erfolgte. Dies macht Studien anfällig sowohl für bewusste Manipulation als auch für zufällige Effekte, wie z.B. dass die Probanden der einen Gruppe aus einem reicheren Stadtteil kommen als die aus der anderen Gruppe, was wiederum Einfluss auf die Studien-Ergebnisse haben kann, oder andere Einfluss-Faktoren.

Das Cochrane Review findet in diesen fünf Studien zwar durchaus Verbesserungen in einigen Bereichen, kommt aber insgesamt zu einem vernichtenden Urteil:

Die Evidenz für diese positiven Ergebnisse ist schwach, weil sie auf schwachen und möglicherweise voreingenommenen Studien basiert.

Vyse weist nun darauf hin, dass auch er selbst die ABA-Forschung für dieses Defizit kritisiert habe. Das mag die Expertise von Vyse aufwerten – nicht aber die ABA-Forschung, die offensichtlich entsprechende Kritik auch in den letzten Jahren immer noch nicht ernst genommen hat. Diese bleibt schlecht – und indirekt gibt das auch Vyse zu.

Er versucht das damit zu rechtfertigen, dass er andere Methoden vorstellt, die ebenfalls schlecht abschneiden, was die Wirksamkeit hat. Dazu gehört u.a. eine Methode, die zumindest einen denkbaren Wirkmechanismus hat (Einüben von Interaktion im Rahmen von Musiktherapie), eine Methode, die bekanntermaßen Schwurbel ist (Akupunktur), und eine, die auf veraltetem Wissen beruht (eine Methode auf Grundlage der Fehleinschätzung, dass Autisten ein Theory-of-mind-Defizit hätten; siehe dazu hier im Blog: Theory of Mind, oder: Was denkst du gerade?)

Die Frage ist, warum ABA hier ausgerechnet mit solchen fragwürdigen Methoden verglichen wird. Keine von ihnen ist das, was Autisten fordern, wenn es um hilfreiche Methoden geht. Wie würde ABA abschneiden, wenn man es etwa mit einer Kombination aus gezielter Ergotherapie und/ oder Logopädie zusammen mit Psychoedukation vergleichen würde? Ergotherapie/ Logopädie für ganz spezifische Probleme, Psychoedukation für das autistische Kind und seine Bezugspersonen, in der erklärt wird, wie man mit typischen Schwierigkeiten umgehen kann?

Zusammenfassung: Vyse kann keine guten Argumente für die Wirksamkeit von ABA bringen: Die Qualität der bisherigen Studien ist mau, und vergleichsweise gut schneidet es wohl nur gegen Schwurbel ab.


Auch bei der Antwort auf die zweite Frage – ob die positiven Effekte die negativen überwiegen – kann Vyse nicht überzeugen.

Das Cochrane Review gibt an, dass „in allen Studien keine unerwünschten Wirkungen berichtet“ wurden. Nur: Bedeutet das, dass keine unerwünschten Wirkungen vorkamen? Oder dass diese verschwiegen wurden?

Ich tippe auf Letzteres. In der Autismusforschung werden bei Therapien mögliche unerwünschte Wirkungen, für die es im Artikel selbst sogar Anhaltspunkte gibt, offenbar öfters verschwiegen. Dazu gibt es sogar eine Studie:

Adverse event reporting in intervention research for young autistic children

Ich lese die entsprechende Aussage des Cochrane Review deshalb weniger als einen Hinweis auf die Unschädlichkeit der Therapien, sondern als einen weiteren Kritkpunkt an den methodisch schwachen Studien.

Vyse kritisiert als nächstes die existierenden Studien zu Hinweisen auf Schäden durch ABA – und vermeidet es damit, auf die Frage des Leserbriefs einzugehen, warum es nicht durch die ABA-Forschung selbst Studien zu möglichen Schäden gibt. Vieles, was an den bisherigen Studien kritisiert wird, wäre hier leicht vermeidbar. Für die Autoren von ABA-Studien wäre es ein Leichtes, Kontaktdaten von Probanden für Follow-up- und Langzeitstudien zu möglichen Schäden aufzubewahren.

Ich frage mich ja immer, ob es solche Studien vielleicht doch gibt, und ich aufgrund von confirmation bias das einfach nicht wahrhaben will. Dass aber auch Vyse als Verteidiger von ABA keine entsprechende entlastende Studie zitieren kann, lässt mich dann aber doch denken, dass es vermutlich wirklich so etwas nicht gibt.

Ein Ablenkungsmanöver ist es, wenn Vyse Klagen gegen Anbieter und Eltern zum Kriterium für eine mögliche Schädlichkeit macht. Die wichtigste Zielgruppe für ABA sind Kleinkinder, die eine entsprechende Klage vermutlich erst als Erwachsene ins Auge fassen könnten. Und diese können dann Ereignisse aus ihrer Kleinkindzeit vermutlich nicht mehr detailliert schildern, geschweige denn nachweisen.

Dazu kommt, wie erfolgsverprechend eine solche Klage sein könnte, wenn es dazu käme.

Die Anbieter sowie Autoren wie Vyse tragen dazu bei, die Methode trotz nachvollziehbar schlechter Evidenz als den „Goldstandard“ bei Autismus darzustellen. Eine Einschätzung, die so mancher Richter ohne tiefere Beschäftigung mit dem Thema vermutlich übernehmen wird. Wo Ursache und Folge tatsächlich offensichtlich sein könnten, wird dann vermutlich entweder die Rede von dem bedauerlichen Einzelfall die Rede sein, in dem jemand die Methode missbraucht habe. Oder es wird darauf verwiesen, dass das das „alte ABA“ sei, und das Neue sei ja so viel besser… Nicht. Das „neue ABA“ ist sozusagen „alter Wein in neuen Schläuchen“.


Auf die dritte Frage, die nach der Ethik, geht Vyse gar nicht wirklich ein. Im Fall der Hauptzielgruppe von ABA, Minderjährigen oder „nicht einwilligungsfähige Erwachsene“, sieht er da den Staat und die Eltern bzw. Betreuer in der Verantwortung. Wir Leser werden informiert, welche staatlichen Stellen ein Verbot erwirken könnten. Und es wird darauf hingewiesen, dass viele Eltern ABA für ihre Kinder wünschen.

Das sind aber keine stichhaltigen Argumente.

Ist ABA ethisch, weil es erlaubt ist? Oder ist es Zeichen dafür, dass Zulassungsstellen und Politiker – anders als bei der Konversionstherapie – noch zu wenig für das Thema sensibilisiert sind?

Ist ABA ethisch, weil die Eltern danach verlangen? Mit diesem Argument könnte man auch das Trinken von Bleichmittel für ethisch erklären, immerhin gibt es genug Eltern, die das als ein geeignetes „Heilmittel“ gegen Autismus betrachten.

Die Fragen, die im Hinblick auf ABA und die Ethik meiner Meinung nach stichhaltig wären, sind:

  • Ist es ethisch, immer weiter ABA-Studien schlechter Qualität und ohne Prüfung auf mögliche Schäden zu publizieren?
  • Ist es ethisch, wenn Anbieter und Journalisten eine Methode mit solch eingeschränkter Evidenz als „Goldstandard“ darstellen?
  • Ist es ethisch, wenn Diagnostiker Eltern nach der Diagnose Info-Material von Anbietern dieser Methode als Empfehlung zukommen lässt?
  • Ist es ethisch, wenn Jugendämter „Therapien“ bei solchen Anbietern finanzieren und teilweise sogar mehr oder weniger vorschreiben, statt auf die bescheidene Evidenzlage und die Kontroverse um mögliche Schäden hinzuweisen?

Bleibt mit nur noch zum Schluss die Frage, ob es Vyse gelungen ist, die Argumente des Leserbriefs zu entkräften.

Die Antwort ist ganz klar:

Nein.

Vyse streitet die schlechte Evidenzlage rund um ABA nicht ab. Er kann auch nicht auf Langzeitstudien verweisen, die die Bedenken bezüglich der möglichen Schäden zerstreuen. Und Vyse scheint auf dem Standpunkt zu stehen: Ethisch ist, was nicht verboten ist und von den Eltern gewünscht wird.

#GWUP, meint Ihr wirklich, dass solch eine Argumentation Eurer Zeitschrift würdig ist?


Dieser Text wurde zuerst als Twitter-Thread veröffentlicht.

Critical Studies – einfach erklärt

Man kann auch in einfacher Sprache schwierige Themen erklären.
Auch wenn es ziemlich lang wird.

Ich erkläre hier den Begriff „Critical Theories“.

Der Begriff kommt in diesem Artikel vor:
Wokeness ist letztlich eine anti-wissenschaftliche Weltanschauung


Zuerst erkläre ich einen anderen schweren Begriff.

Er heißt:
Theory of Mind.

„Ich habe Theory of Mind“ bedeutet:

Ich weiß:
Andere wissen nicht das Gleiche wie ich.

Dafür gibt es auch einen Test:

Die Puppe Sally legt einen Keks in einen Korb.
Die Puppe Ann versteckt den Keks in einer Schachtel.

Wo wird Sally den Keks suchen?

Die richtige Antwort ist:
Sally wird den Keks im Korb suchen.

Ann hat den Keks in der Schachtel versteckt.
Sally hat das nicht gesehen.
Sally weiß das nicht.
Sally denkt: Der Keks ist noch im Korb.


So ist das auch mit anderen Sachen.

Schwarze werden oft wegen ihrer Hautfarbe beleidigt.
Schwarze werden oft wegen ihrer Hautfarbe benachteiligt.
Zum Beispiel:
Wer darf in eine Wohnung einziehen?
Der Hausbesitzer entscheidet das.
Viele Hausbesitzer geben ihre Wohung lieber einem Weißen als einem Schwarzen.
Schwarze werden deshalb durch ihre Hautfarbe benachteiligt.


Viele Behinderte brauchen Unterstützung.
Sie bitten Ärzte um Unterstützung.
Sie bitten Ämter um Unterstützung.
Sie bitten andere Menschen um Unterstützung.

Die Ärzte entscheiden:
Dieser Mensch bekommt Unterstützung.
Dieser Mensch bekommt keine Unterstützung.
Die Ämter entscheiden:
Dieser Mensch bekommt Unterstützung.
Dieser Mensch bekommt keine Unterstützung.
Die anderen Menschen entscheiden:
Dieser Mensch bekommt Unterstützung.
Dieser Mensch bekommt keine Unterstützung.

Das bedeutet:
Ärzte, Ämter und andere Menschen haben Macht.


Wie oft werden Schwarze wegen ihrer Hautfarbe beleidigt?
Wie oft werden Schwarze wegen ihrer Hautfarbe benachteiligt?
Welche Benachteiligungen gibt es?

Schwarze wissen es.
Sie werden beleidigt.
Sie werden benachteiligt.

Wissen Weiße es?
Nein.
Sie werden nicht wegen ihrer Hautfarbe beleidigt.
Sie werden nicht wegen ihrer Hautfarbe benachteiligt.

Wie oft bekommen Behinderte keine Unterstützung?
Wer hat Macht über sie?

Behinderte wissen es.
Sie bitten um Unterstützung.
Sie hören: „Nein“.

Wissen es Nichtbehinderte?
Die meisten nicht.
Sie haben nicht Ärzte, Ämter und andere Menschen um Unterstützung gebeten.
Sie haben nicht „Nein“ gehört.

Wie können Weiße das lernen?
Wie können Nichtbehinderte das lernen?

Jemand muss Schwarze fragen.
Jemand muss Behinderte fragen.
Jemand muss es aufschreiben.
So können alle es wissen.

Das machen Forscher.
Die Forschung nennt man:
Critical Race Studies.
Disability Studies.
Oder zusammengefasst:
Critical Studies.

Forscher können dann vielleicht sagen:
Schwarze werden öfter beleidigt als Weiße.
Schwarze werden öfter benachteiligt als Weiße.
Behinderte werden öfter benachteiligt als Nichtbehinderte.
Andere Menschen haben zu viel Macht über Schwarze oder über Behinderte.
Forscher können dann vielleicht sagen:
Das ist ungerecht.

Forscher können dann vielleicht auch sagen:
Wir Menschen können bestimmte Dinge tun.
Dann ist es weniger ungerecht.


Ich habe oben einen Artikel verlinkt.

In dem Artikel geht es um Critical Studies.

Der Autor mag Critical Studies nicht.

Er sagt:

Critical Studies teilen Menschen in Gruppen ein.
Diese Gruppen unterscheiden sich zum Beispiel nach Hautfarben.
Man soll Menschen nicht in Gruppen einteilen.

Aber so kann man nicht lernen.
Eine Gruppe wird benachteiligt?
Dann muss man diese Gruppe fragen.

Der Autor versteht das anscheinend nicht.
Ich glaube:
Ihm fehlt Theory of Mind.

Auch andere Menschen teilen Menschen in Gruppen ein.
Der Autor nennt sie „Rechte“.
Diese wollen aber nicht Gerechtigkeit.
Diese wollen Menschen trennen.
Sie fragen die Schwarzen nicht.
Sie sagen:
Schwarze sollen nicht in Europa leben.
Schwarze sollen in Afrika leben.

Der Autor sagt:
Critical Studies wollen das Gleiche wie die „Rechten“.
Dabei wollen sie etwas ganz anderes.

Der Autor sagt auch:
In den Critical Studies sind Forscher nicht neutral.
Neutral bedeutet:
Nicht auf der einen und nicht auf der anderen Seite stehen.
Der Autor sagt:
Die Forscher stehen auf einer Seite.
Sie wollen den Unterdrückten helfen.
Sie sollen nicht sagen:
Das ist ungerecht. Sie sollen nicht sagen:
Das können wir besser machen.
Der Autor meint:
Das ist keine Wissenschaft.

Ich sage:
Wissenschaft darf sagen:
Das ist ungerecht.
Wissenschaft darf sagen:
So kann man es besser machen.
Auch andere Wissenschafts-Fächer denken über Gerechtigkeit nach.
Das sind z.B. Jura und Philosphie.


Der Autor unterscheidet noch zwei Gruppen.

Nennen wir die eine Gruppe „Skeptiker“.
Nennen wir die andere Gruppe „Faschistoide“.

Beide Gruppen sind gegen Critical Studies.

Der Autor sagt: Die Gründe sind unterschiedlich.

Stimmt das?

Ich weiß es nicht.
Ich kenne die Gedanken der „Skeptiker“ nicht.
Ich habe Theory of Mind.

Aber ich denke:

Die „Faschistoiden“ werden sagen:
Die „Skeptiker“ sind gegen Critcal Studies.
Die „Skeptiker“ sind Wissenschaftler.
Wissenschaftler sind gegen Critical Studies.
Wir haben recht:
Critical Studies sind schlecht.

Das bedeutet:
Die „Skeptiker“ helfen den „Faschistoiden“.
Der Autor sagt:
Die „Skeptiker“ wollen das nicht.
Aber sie tun es trotzdem.


Ich bin fertig. Hoffentlich kann man alles verstehen.


Der Text ist auch bei Twitter.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Das „neue ABA“ – was ist das? Gibt’s das schon? Und ist es wirklich besser?

Ich habe hier einen Text von Dr. Gregory Hanley, A Perspective on Today’s ABA, und wie immer liegt der Teufel im Detail.

Der erste Teil des Textes ist zu schön, um wahr zu sein, und zwar wirklich.

Ein Spieleparadies für das zu „therapierende“ Kind, mit allem, was es laut Aussage der Bezugspersonen mag, und auch allen Spielsachen, die das Kind nicht mehr benutzen durfte, weil es sozusagen „falsch“ damit gespielt hat. Als „Therapeut“ unaufdringlich sein und dem Kind die Führung überlassen. Auf alle Arten von Kommunikation eingehen, Verhalten nicht bewerten.

So sollte es immer sein, oder?

Außer, dass es das nicht ist.

Die Phase, die hier beschrieben wird, ist üblich, wenn ein Kind neu zur ABA-„Therapie“ kommt. Sie wird als „pairing“ bezeichnet und dient dazu, dass das Kind eine Beziehung zum „Therapeuten“ aufbaut und die „Therapie“-Sitzungen mit den angenehmen Dingen verbindet, die es in diesen ersten Sitzungen geboten bekommt. Sie wird vom „Therapeuten“ außerdem normalerweise genutzt, um festzustellen, welches Spielzeug, welche Aktivität dem Kind am meisten Spaß machen – um diese dann später als Verstärker zu benutzen.

(Darf ich darauf hinweisen, dass ähnliches Verhalten in anderen Kontexten als „grooming“ bezeichnet wird?)

Dieser Text ist das erste Mal, dass ich das so ausführlich beschrieben sehe, aber es überrascht mich nicht. Das hier beschriebene Spieleparadies mit dem unaufdringlichen „Therapeuten“ ist die Erfahrung, mit der das Kind die folgenden Erfahrungen messen wird.

Denn es wird nicht so bleiben, wenn die zweite Phase beginnt.

„It starts by clearly signaling that the prevailing conditions are about to change, and for the worse, but be clear and kind about it. Through normal actions and words, make it clear to the autistic person that you would like them to stop what they are doing, set aside their materials, move in a different direction, inhibit any self-stimulatory behavior, and transition to an area in which developmentally appropriate instruction/expectations will commence.“

Screenshot aus dem Artikel von Hanley:

Learn by empowering.

After you are confident that you can create a safe and engaging context and there is zero probability of any severe problem behavior in this context, it is time to empower the autistic person further and establish trust between you and the autistic person. It starts by clearly signaling that the prevailing conditions are about to change, and for the worse, but be clear and kind about it. Through normal actions and words, make it clear to the autistic person that you would like them to stop what they are doing, set aside their materials, move in a different direction, inhibit any self-stimulatory behavior, and transition to an area in which developmentally appropriate instruction/expectations will commence. Be sure this area of high expectations is set aside to some extent and populated with all the challenging activities and expectations reported by those who know and love this autistic person as important for his/her/their development.

In dieser zweiten Phase geht es eben nicht mehr um den Willen des Kindes, sondern um den des „Therapeuten“ („transitioning from essentially their way to your way“). Es ist auch ein Übergang von dem unregulierten Spieleparadies in einen eigenen Bereich des Raums, der für das eigentliche Training vorgesehen ist und Lernmaterialien enthält.

Der Übergang beinhaltet auch, die im Spielebereich genutzten Materialien beiseitezulegen und – das ist besonders festzuhalten – Stimming („self-stimulatory behavior“) zu unterdrücken. Stimming wird hier also fälschlicherweise als etwas behandelt, was beim Lernen stört. Dass dies so erwartet wird, zeigt recht eindrucksvoll, dass die Behauptung „Beim modernen ABA wird Stimming nicht abtrainiert“ nur heiße Luft ist.

Dann gibt es noch eine Passage, in der Ziele kurz gestreift werden – leider nur kurz. „The path to a joyous lifestyle for families with autistic persons is paved with skills. The big pavers are play/ leisure skills, communication, toleration, and cooperation.“ Und weiter: „Today’s ABA process continues by replacing the behavior revealed in the empowerment phase with an easier one that will be better received by others.“

Screenshot aus dem Artikel von Hanley:

Learn while teaching.

The path to a joyous lifestyle for families with autistic persons is paved with skills. The big pavers are play/leisure skills, communication, toleration, and cooperation. Once these are set, the branching paths are endless. Today’s ABA process continues by replacing the behavior revealed in the empowerment phase with an easier one that will be better received by others. The process involves [...]

Wenn es um „play skills“ geht, dann fällt mir als erstes diese grauenhafte Studie ein, in der autistischen Kindern beigebracht werden sollte, „richtig“ mit einer Ritterburg und einem Bauernhaus zu spielen:

Choice for Reinforced Behavioral Variability in Children with Autism Spectrum Disorder (PDF ab S. 177)

Man vergisst dabei nur, dass auch autistisches Spiel wichtige Funktionen erfüllen kann – und natürlich solch „andressiertes“ Spiel alles andere als spielerische Betätigung ist.

Was ist mit „toleration“ gemeint? Ich befürchte, dass es hier darum geht, dass das Kind lernt, unangenehme und vielleicht schmerzhafte Reize auszuhalten, auch wenn Hanley es vermutlich anders beschreiben würde.

Und: Es geht darum, das Verhalten, dass das Kind in der Eingewöhnung zeigt, auch wenn es glücklich und entspannt ist, zu ersetzen durch Verhalten, das bei anderen besser ankommt. Besser kann man, denke ich, nicht offenbaren, dass es auch im „neuen ABA“ darum geht, dass das Kind neurotypische Erwartungen an sein Verhalten erfüllen soll. Statt der Umwelt autistisches Verhalten zu erklären, soll es dies wohl durch nichtautistisches Verhalten ersetzen. Und damit wären wir wieder beim Masking, von dem mittlerweile bekannt sein sollte, dass dies das Risiko für Depressionen und Burnout erhöht.

Was mich angenehm überrascht hat, war, dass das Kind jederzeit den Lernbereich verlassen und in den allgemeinen Bereich, das, was ich als „Spieleparadies“ bezeichnet habe, gehen kann. Es ist aber auch zu bemerken, dass diese Zeiten kurz gehalten werden sollen. „Let the autistic person return to their way and resume following their lead until he/she/they gets back to their version of happy, relaxed, and engaged for a short period.“ Ein gestresstes Kind soll im Spielebereich wieder zu guter Laune zurückfinden, dann soll man aber schnell wieder das Kind dazu anhalten, die Spielmaterialien wegzulegen, Stimming zu stoppen und in den Lernbereich zurückzukommen.

Man darf auch nicht vergessen, dass ein ziemlich großer Teil der ABA-Forschung sich damit befasst, „task avoidance“ zu beseitigen. Dazu reicht es oft schon, Belohnungen vorzuenthalten, und es ist durchaus wahrscheinlich, dass die beliebtesten Spielzeuge, Süßigkeiten oder Aktivitäten nach dem Ende der ersten Phase eben nicht im Spielbereich zugänglich sind, sondern als Belohnungen für den Lernbereich vorbehalten werden.

Kurz gesagt, hier erfolgt das Lernen zwar nicht unter Zwang. Aber die Inhalte sind immer noch so, dass sie langfristig schaden können. Abtrainieren von Stimming, Antrainieren von „richtigem“ Spiel, für die Außenwelt akzeptables Verhalten. Das ist Antrainieren von Masking, und nicht das, was sich Autisten wünschen, was autistische Kinder lernen sollen: sich selbst zu akzeptieren und ihre Bedürfnisse zu kennen und zu äußern.

Und damit wäre klar:

Das „neue ABA“ ist neuer Wein in alten Schläuchen.


Dieser Text wurde zuerst als Twitter-Thread veröffentlicht.

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