Ein Leserbrief. Eine Antwort. Und mein Kommentar.

In der aktuellen „Skeptiker“Ausgabe wird im „Leserforum“ das Thema ABA wieder aufgegriffen. Ich schaue mal, wie diesmal damit umgegangen wird.

Das Thema ABA wurde als Reaktion auf drei Artikel in der Skeptiker-Ausgabe vom Dezember 2022 heiß diskutiert (Stichwort #GWUPGate). Und ist, wie es scheint, eines der Themen, das zu einem heftigen Richtungsstreit unter den Mitgliedern der GWUP beigetragen hat.

Im Rahmen der damaligen Diskussion war den ABA-Kritikern auch angeboten worden, selbst einen Artikel oder Leserbrief einzureichen. Mit diesem Hinweis haben sich auch GWUP-Mitglieder einer Diskussion bei Twitter entzogen. Mir erscheint das nicht logisch – denn wer Artikel bei Twitter bewirbt bzw. lobt, sollte sich auch dort den Fragen stellen, was er zu Hinweisen auf massive Fehler in den beworbenen Artikeln denkt.

Eine Autorin hatte mittlerweile einen Artikel beim „Skeptiker“ eingereicht. Dieser ist von einem Gutachter abgelehnt worden – mit fadenscheinigen Gründen. Es scheint, als habe man keinen ABA-kritischen Artikel abdrucken wollen.

Ein kritischer Leserbrief ist nun tatsächlich abgedruckt worden – zusammen mit einer Entgegnung des kritisierten Autoren, in der dieser die Kritik zu entkräften versucht. Ich möchte beides mal auseinander nehmen.

Der Autor des Leserbriefs heißt Michael Valkenberg; er kritisiert den Artikel von Stuart Vyse aus der Dezember-Ausgabe. Er stellt drei aufeinander aufbauende Fragen:

  1. „Funktioniert“ ABA?
  2. Ist ABA nützlich?
  3. Ist ABA ethisch?
Screenshot aus dem Leserbrief:

1. Funktioniert ABA überhaupt? Das heißt, gibt es ausreichend Belege dafür, dass ABA zu einer dauerhaften gewünschten Veränderung im Verhalten autistischer Personen führt?

2. Wenn ABA funktioniert, ist es nützlich? Damit meine ich die Frage, ob die positiven Effekte die 
möglichen negativen Folgen überwiegen. (Sollte ABA nicht funktionieren, erübrigt sich diese Frage
natürlich.

3. Selbst wenn ABA nützlich ist, ist der Einsatz ethisch? Hier muss man über Dinge wie Patientenrechte und Menschenwürde nachdenken.

Valkenberg versucht jetzt nicht, die Antworten auf diese Fragen selbständig zu finden und mit unabhängigen Quellen zu belegen, ob ABA nützlich oder ethisch ist. Er geht stattdessen den Weg, den Artikel von Vyse auf Antworten auf diese Fragen abzuklopfen. Das finde ich insofern einen guten Schachzug, weil der „Skeptiker“ diesen Artikel ja publiziert hat, insofern dessen Aussagen vermutlich nicht grundsätzlich in Frage stellen wird.

Als Antwort auf die erste Fragen („Funktioniert“ ABA?) findet Valkenberg im Artikel: Vielleicht, aber die Evidenz ist schlecht.

Als Antwort auf die zweite Frage erkennt er die Kritik an, die Vyse selbst im Artikel an drei ABA-kritischen Studien übt, kritisiert dann aber selbst, dass ABA-Studien die Frage nach negativen Folgen bisher ignorieren.

Und zur dritten Frage weist er darauf hin, dass Vyse auch die Kritik derjenigen verschweigt, die selbst ihre Erfahrungen mit ABA gemacht haben.

Insgesamt finde ich den Leserbrief sehr gut; er macht auf problematische Verzerrungen und Auslassungen im Artikel von Vyse aufmerksam.


Schauen wir auf die Anwort von Vyse; schauen wir, ob er es schafft, die Kritik zu entkräften.

Sie ist doppelt so lang, und – Spoiler – schafft es trotzdem nicht.

Vyse folgt der Gliederung des Leserbriefs mit seinen drei Fragen.


In seiner Antwort auf die erste Frage zitiert er das Cochrane Review von 2018 (Early intensive behavioral intervention (EIBI) for young children with autism spectrum disorders (ASD)). Und, tut mir leid, selbst das, was Vyse schreibt, ist nicht geeignet, mein Vertrauen in die ABA-Forschung zu erhöhen.

Aus der Zusammenfassung der Autoren:

Screenshot aus dem Abstract des Cochrane Reviews 2018:

Authors' conclusions

There is weak evidence that EIBI may be an effective behavioral treatment for some children with ASD; the strength of the evidence in this review is limited because it mostly comes from small studies that are not of the optimum design. Due to the inclusion of non‐randomized studies, there is a high risk of bias and we rated the overall quality of evidence as 'low' or 'very low' using the GRADE system, meaning further research is very likely to have an important impact on our confidence in the estimate of effect and is likely to change the estimate.

Das Cochrane Review ist eine Metastudie, d.h. eine Studie, bei der schon vorhandene Studien ausgewertet werden, die nach bestimmten Qualitätskriterien ausgewählt werden. Dazu gehört normalerweise, dass es eine größere Menge an Probanden gab, die per Zufall einer Test- und einer Kontrollgruppe zugeteilt wurden, von denen erstere die Behandlung erhält, letztere jedoch nicht. Nur so kann unterschieden werden, ob eventuelle Verbesserungen durch die Behandlung kommen, und welche durch andere Faktoren.

Das Cochrane Review von 2018 hat für ABA eine(!) solche randomisierte Kontroll-Studie gefunden. In die Auswertung fließen außerdem noch vier Studien ein, die zwat eine Kontrollgruppe haben, bei der aber anscheinend die Zuweisung zu den Gruppen nicht zufällig erfolgte. Dies macht Studien anfällig sowohl für bewusste Manipulation als auch für zufällige Effekte, wie z.B. dass die Probanden der einen Gruppe aus einem reicheren Stadtteil kommen als die aus der anderen Gruppe, was wiederum Einfluss auf die Studien-Ergebnisse haben kann, oder andere Einfluss-Faktoren.

Das Cochrane Review findet in diesen fünf Studien zwar durchaus Verbesserungen in einigen Bereichen, kommt aber insgesamt zu einem vernichtenden Urteil:

Die Evidenz für diese positiven Ergebnisse ist schwach, weil sie auf schwachen und möglicherweise voreingenommenen Studien basiert.

Vyse weist nun darauf hin, dass auch er selbst die ABA-Forschung für dieses Defizit kritisiert habe. Das mag die Expertise von Vyse aufwerten – nicht aber die ABA-Forschung, die offensichtlich entsprechende Kritik auch in den letzten Jahren immer noch nicht ernst genommen hat. Diese bleibt schlecht – und indirekt gibt das auch Vyse zu.

Er versucht das damit zu rechtfertigen, dass er andere Methoden vorstellt, die ebenfalls schlecht abschneiden, was die Wirksamkeit hat. Dazu gehört u.a. eine Methode, die zumindest einen denkbaren Wirkmechanismus hat (Einüben von Interaktion im Rahmen von Musiktherapie), eine Methode, die bekanntermaßen Schwurbel ist (Akupunktur), und eine, die auf veraltetem Wissen beruht (eine Methode auf Grundlage der Fehleinschätzung, dass Autisten ein Theory-of-mind-Defizit hätten; siehe dazu hier im Blog: Theory of Mind, oder: Was denkst du gerade?)

Die Frage ist, warum ABA hier ausgerechnet mit solchen fragwürdigen Methoden verglichen wird. Keine von ihnen ist das, was Autisten fordern, wenn es um hilfreiche Methoden geht. Wie würde ABA abschneiden, wenn man es etwa mit einer Kombination aus gezielter Ergotherapie und/ oder Logopädie zusammen mit Psychoedukation vergleichen würde? Ergotherapie/ Logopädie für ganz spezifische Probleme, Psychoedukation für das autistische Kind und seine Bezugspersonen, in der erklärt wird, wie man mit typischen Schwierigkeiten umgehen kann?

Zusammenfassung: Vyse kann keine guten Argumente für die Wirksamkeit von ABA bringen: Die Qualität der bisherigen Studien ist mau, und vergleichsweise gut schneidet es wohl nur gegen Schwurbel ab.


Auch bei der Antwort auf die zweite Frage – ob die positiven Effekte die negativen überwiegen – kann Vyse nicht überzeugen.

Das Cochrane Review gibt an, dass „in allen Studien keine unerwünschten Wirkungen berichtet“ wurden. Nur: Bedeutet das, dass keine unerwünschten Wirkungen vorkamen? Oder dass diese verschwiegen wurden?

Ich tippe auf Letzteres. In der Autismusforschung werden bei Therapien mögliche unerwünschte Wirkungen, für die es im Artikel selbst sogar Anhaltspunkte gibt, offenbar öfters verschwiegen. Dazu gibt es sogar eine Studie:

Adverse event reporting in intervention research for young autistic children

Ich lese die entsprechende Aussage des Cochrane Review deshalb weniger als einen Hinweis auf die Unschädlichkeit der Therapien, sondern als einen weiteren Kritkpunkt an den methodisch schwachen Studien.

Vyse kritisiert als nächstes die existierenden Studien zu Hinweisen auf Schäden durch ABA – und vermeidet es damit, auf die Frage des Leserbriefs einzugehen, warum es nicht durch die ABA-Forschung selbst Studien zu möglichen Schäden gibt. Vieles, was an den bisherigen Studien kritisiert wird, wäre hier leicht vermeidbar. Für die Autoren von ABA-Studien wäre es ein Leichtes, Kontaktdaten von Probanden für Follow-up- und Langzeitstudien zu möglichen Schäden aufzubewahren.

Ich frage mich ja immer, ob es solche Studien vielleicht doch gibt, und ich aufgrund von confirmation bias das einfach nicht wahrhaben will. Dass aber auch Vyse als Verteidiger von ABA keine entsprechende entlastende Studie zitieren kann, lässt mich dann aber doch denken, dass es vermutlich wirklich so etwas nicht gibt.

Ein Ablenkungsmanöver ist es, wenn Vyse Klagen gegen Anbieter und Eltern zum Kriterium für eine mögliche Schädlichkeit macht. Die wichtigste Zielgruppe für ABA sind Kleinkinder, die eine entsprechende Klage vermutlich erst als Erwachsene ins Auge fassen könnten. Und diese können dann Ereignisse aus ihrer Kleinkindzeit vermutlich nicht mehr detailliert schildern, geschweige denn nachweisen.

Dazu kommt, wie erfolgsverprechend eine solche Klage sein könnte, wenn es dazu käme.

Die Anbieter sowie Autoren wie Vyse tragen dazu bei, die Methode trotz nachvollziehbar schlechter Evidenz als den „Goldstandard“ bei Autismus darzustellen. Eine Einschätzung, die so mancher Richter ohne tiefere Beschäftigung mit dem Thema vermutlich übernehmen wird. Wo Ursache und Folge tatsächlich offensichtlich sein könnten, wird dann vermutlich entweder die Rede von dem bedauerlichen Einzelfall die Rede sein, in dem jemand die Methode missbraucht habe. Oder es wird darauf verwiesen, dass das das „alte ABA“ sei, und das Neue sei ja so viel besser… Nicht. Das „neue ABA“ ist sozusagen „alter Wein in neuen Schläuchen“.


Auf die dritte Frage, die nach der Ethik, geht Vyse gar nicht wirklich ein. Im Fall der Hauptzielgruppe von ABA, Minderjährigen oder „nicht einwilligungsfähige Erwachsene“, sieht er da den Staat und die Eltern bzw. Betreuer in der Verantwortung. Wir Leser werden informiert, welche staatlichen Stellen ein Verbot erwirken könnten. Und es wird darauf hingewiesen, dass viele Eltern ABA für ihre Kinder wünschen.

Das sind aber keine stichhaltigen Argumente.

Ist ABA ethisch, weil es erlaubt ist? Oder ist es Zeichen dafür, dass Zulassungsstellen und Politiker – anders als bei der Konversionstherapie – noch zu wenig für das Thema sensibilisiert sind?

Ist ABA ethisch, weil die Eltern danach verlangen? Mit diesem Argument könnte man auch das Trinken von Bleichmittel für ethisch erklären, immerhin gibt es genug Eltern, die das als ein geeignetes „Heilmittel“ gegen Autismus betrachten.

Die Fragen, die im Hinblick auf ABA und die Ethik meiner Meinung nach stichhaltig wären, sind:

  • Ist es ethisch, immer weiter ABA-Studien schlechter Qualität und ohne Prüfung auf mögliche Schäden zu publizieren?
  • Ist es ethisch, wenn Anbieter und Journalisten eine Methode mit solch eingeschränkter Evidenz als „Goldstandard“ darstellen?
  • Ist es ethisch, wenn Diagnostiker Eltern nach der Diagnose Info-Material von Anbietern dieser Methode als Empfehlung zukommen lässt?
  • Ist es ethisch, wenn Jugendämter „Therapien“ bei solchen Anbietern finanzieren und teilweise sogar mehr oder weniger vorschreiben, statt auf die bescheidene Evidenzlage und die Kontroverse um mögliche Schäden hinzuweisen?

Bleibt mit nur noch zum Schluss die Frage, ob es Vyse gelungen ist, die Argumente des Leserbriefs zu entkräften.

Die Antwort ist ganz klar:

Nein.

Vyse streitet die schlechte Evidenzlage rund um ABA nicht ab. Er kann auch nicht auf Langzeitstudien verweisen, die die Bedenken bezüglich der möglichen Schäden zerstreuen. Und Vyse scheint auf dem Standpunkt zu stehen: Ethisch ist, was nicht verboten ist und von den Eltern gewünscht wird.

#GWUP, meint Ihr wirklich, dass solch eine Argumentation Eurer Zeitschrift würdig ist?


Dieser Text wurde zuerst als Twitter-Thread veröffentlicht.

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