Ideologische Verblendung

Im Rahmen von #GWUPGate ist von einigen Mitgliedern der GWUP (Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften) gegen uns der Vorwurf erhoben worden, die Kritik an ABA sei ideologisch motiviert, bzw. nur einer Sache von Aktivisten, und wissenschaftlich nicht ernstzunehmen.

Ich würde gerne dazu Stellung nehmen.

Ich bin von Haus aus Geisteswissenschaftlerin. Ich habe gelernt, interdisziplinär zu arbeiten. Ich habe gelernt, dass es wichtig ist, alle verfügbaren Quellen zum Thema zu berücksichtigen, wenn ich Schlussfolgerungen ziehe. Wenn mich jemand auf eine Quelle hinweist, die ich nicht berücksichtigt habe, egal, ob aus meiner eigenen Disziplin oder einer Nachbardisziplin, ist es notwendig, zu überprüfen, ob sie zu meinen Schlussfolgerungen passt, oder ob ich meine Schlussfolgerungen anpassen muss.

Das Gleiche sollte auch für die Forschung über Autismus und über für Autisten bestimmte Therapie-Angebote gelten.

Jahrzehntelang hatte man einen beschränkten Zugang zu Daten – dem Äquivalent zu den Quellen der Geisteswissenschaft. Die meisten Autisten waren Kinder die nicht sprachen? Dann musste man sie beobachten, wie die Gorillas im Zoo, oder besser noch, wie die Ratte in der Skinner-Box. Würden auch sie gewünschte Bewegungsabläufe lernen, wenn man ihnen die richtige Menge an Futterkügelchen, pardon, Gummibärchen gab? Es funktionierte? Nun, dann wusste man jetzt, so können Autisten lernen. Und wenn sie mit konstanter Gummibärchen-Zufuhr alles gelernt hätten, was Nichtautisten können, nun, dann wären sie vermutlich auch Nichtautisten

Später hatte man es dann mit sprechenden Autisten zu tun. Man beobachtete noch immer, aber man konnte sie Fragebögen ausfüllen lassen. So wie z.B. den zum Autismus-Quotienten von Simon Baron-Cohen (AQ-Test), der offenbar recht zuverlässig zwischen Autisten und Nichtautisten unterscheiden konnte. Auf der Grundlage dieser Fragebogen-Ergebnisse ließ sich dann wieder spekulieren. So kam es zur Theorie, dass Autisten ein „extreme male brain“ hätten, ein extrem männliches Gehirn. Und dass es ihnen an Theory of Mind fehle, dem Wissen, dass andere Menschen nicht das Gleiche wissen wie sie selbst. Und dass es ihnen an Empathie mangele. Das alles war konsistent mit dem, was die Fragebögen hergaben, und schien wie einen gute Erklärung.

Dann begannen sich die erwachsenen Autisten zu vernetzen. In Selbsthilfegruppen, Foren und social media ihre Erfahrungen auszutauschen, ihre Probleme und Wünsche zu vergleichen. Stellten fest, welche Gemeinsamkeiten wohl „typisch autistisch“ sein könnten und welche nicht. Tauschten sich über sensorische Empfindlichkeiten aus, über die merkwürdig mehrdeutige Kommunikation unter Nichtautisten. Stellten fest: Auch wenn es unter Autisten Streits und Missverständnisse geben kann, so ist das Gefühl, verstanden zu werden, für Autisten bei anderen Autisten viel häufiger möglich als bei Nichtautisten.

Anekdotische Evidenz, ja, und noch keine Wissenschaft. Aber eine Steilvorlage für Forschungen, könnte man meinen. Und tatsächlich scheint gerade ein Paradigmenwechsel in der Autismus-Forschung stattzufinden. In qualitativen Studien, wie sie in den Sozialwissenschaften etabliert sind, wird erhoben, was typische Phänomene sind.

Damit weiß man natürlich noch nicht, bei wieviel Prozent aller Autisten bestimmte Phänomene eine Rolle spielen; zu diesem Zweck werden sicher in einem 2. Schritt dann auch quantitative Studien erstellt werden. Aber die Existenz dieser Phänomene kann nicht mehr wegdiskutiert werden. Und mittlerweile gibt es immer mehr Forschungsexperimente, die die Erfahrungen der Autisten bestätigen.

Damit ergibt sich eine neue Anforderung an die Forschung: Die Hypothesen der Forscher müssen nun sowohl diese Phänomene und Forschungsdaten erklären können als auch die alten Forschungsdaten.

Dem von Damian Milton formulierte „Double Empathy Problem“ gelingt genau dies. Mittlerweile wurde in einigen Studien bestätigt, dass Autisten untereinander effektiv kommunizieren und sich allgemein besser untereinander verstehen als in gemischten Gruppen aus Autisten und Nichtautisten; siehe zur Theorie und den sie bestätigenden Studien den Artikel „Double Empathy, Explained„.

Zugleich erklärt sie aber auch die Beobachtungen, die zu der bisherigen Vorstellung von einem Kommunikationsdefizit der Autisten geführt haben: Da die Kommunikationsstrategien von Autisten und Nichtautisten unterschiedlich sind, ist es verständlich, dass es zwischen Angehörigen der beiden Gruppe zu Missverständnissen kommt. Aber Autisten sind in der Minderheit, daher werden sie meist in Interaktion mit Nichtautisten beobachtet. Da aber nichtautistische Forscher die nichtautistische Art der Kommuniktion als „normal“ empfinden, musste die autistische Art der Kommunikation als das Problem gesehen werden – statt es als gegenseitiges Problem zu erkennen. Die alte Vorstellung, dass das Defizit allein bei den Autisten liege, ist dagegen nicht in der Lage zu erklären, warum Kommunikation in rein autistischen Gruppen offenbar besser funktioniert als in gemischten Gruppen, und muss deswegen als überholt gelten.

Ähnlich ist es auch mit dem AQ-Test. Unter Autisten wird immer wieder über diesen und andere Fragebögen diskutiert, und es zeigt sich, dass z.B. bei den Fragen nach Präferenzen das Sensorische eine große Rolle für die Entscheidung spielt. So kreuzen dann tatsächlich viele Autisten im AQ-Test die gleichen Antworten an – aber aus anderen Gründen, als von Baron-Cohen angenommen.

Die genannten Phänomene sind auch eine Steilvorlage, die die Hypothesenbildung in anderen Studien bereichern kann – oder zumindest könnte, wenn man sie ernst nähme. Mein Paradebeispiel ist da die Mikrobiom-Forschung.

Zahlreiche Mikrobiom-Studien zu Autismus beruhen darauf, dass bei Autisten häufig ein im Vergleich zu Nichtautisten verarmtes Mikrobiom festgestellt wird. Daraus wird dann z.T. der Schluss gezogen, dass Autismus durch ein verarmtes Mikrobiom entstünde.

Wer aber Diskussionen von Autisten mitverfolgt hat, wird wissen, dass Autisten häufig aus sensorischen Gründen einseitig essen. Und diese einseitige Ernährung wird wiederum dann das Mikrobiom beeinflussen.

Und voila, das wurde auch von einer entsprechende Studie festgestellt. Wer also die relvanten Phänomene kennt, kommt so schneller zu erfolgversprechenden Forschungsfragen.

Dasselbe sollte eigentlich auch für die ABA-Forschung gelten.

Das Ziel von einem „Functional Behavior Assessment“ ist es, die Funktion von beobachtetem störenden Verhalten aufzudecken, sozusagen die Gründe dafür.

Liest man ABA-Studien, dann stellt sich heraus, dass regelmäßig ziemlich wenig Gründe genannt werden. „Task avoidance“ ist einer davon, „attention seeking“ ein weiterer, „automatic reinforcement“, bei dem das Verhalten selbst die Belohnung darstellt, ein dritter.

Und das wars dann im Wesentlichen auch schon.

Dass es vermutlich jedem entwürdigend vorkommen dürfte, das eigene Verhalten unter so flachen Begriffen beschrieben zu sehen, sei dahingestellt.

Dass daneben nicht auf die wirkliche Motivation geschaut wird und dabei die von Autisten beschriebenen Lebensrealitäten berücksichtigt werden, verhindert auch, dass Parameter berücksichtigt werden, die helfen könnten, schneller zum Ziel zu kommen oder Schäden zu verhindern.

Nehmen wir „task avoidance“. Warum wird eine Aufgabe vermieden? Zu schwer? Zu langweilig? Zu schmerzhaft? Wer hier die richtige Antwort findet, kann die Aufgabe so verändern, dass weniger Druck von außen nötig ist.

Nur: Wer sich dabei nur auf die eigene Einschätzung einer Situation verlässt, dem kann manchmal die richtige Antwort entgehen.

Das Kind will sich nicht die Zähne putzen? Wirft sich im Supermarkt regelmäßig auf den Boden, statt brav mit der Mama mitzugehen? Vielleicht braucht es da kein ausgeklügeltes Belohnungsschema – sondern eine weniger scharf schmeckende Zahnpasta. Und im Supermarkt einen Gehörschutz. Oder vielleicht die Entscheidung, den Einkauf so zu regeln, dass das Kind nicht mitkommen muss.

Denn viele Autisten schreiben über diese Situationen, dass sie ihnen sensorische Probleme bereiten. Die Zahnpasta regelrecht schmerzhaft scharf. Der Supermarkt eine Quelle der Reizüberflutung, bis hin zum Meltdown. Das perfekte Belohnungssystem (oder eine zu erwartende Strafe) kann das Kind dazu bringen, sich dem doch auszusetzen. Aber gesund für die Psyche ist es nicht, einem Kind beizubringen, Schmerzen klaglos zu ertragen – vor allem, wenn sich Wege finden lassen, diese Schmerzen zu vermeiden.

Ähnliche Beispiele ließen sich mühelos auch für die Funktionen „attention seeking“ oder „automatic reinforcement“ finden.

Beispiel Meltdown:

Ein Meltdown ist eine extreme Stressreaktion, deren Ursache vor allem übermäßige sensorische Überlastung ist. Er ist, einmal ausgebrochen, kaum noch steuerbar, und darum unbedingt von einem „normalen“ Wutausbruch zu unterscheiden, der meist dem Erreichen eines bestimmten Ziels dient, auch wenn er diesem oberflächlich ähnlich sieht.

Während der Versuch, den übermäßigen sensorischen Reizen zu entkommen, bei einem „Functional Behavior Assessment“ vermutlich als „task avoidance“ gelabelt und entsprechend behandelt wird, werden Meltdowns selbst dann oft unter „attention seeking“ eingeordnet.

Warum?

Nun, so ein extremes Ereignis zieht selbstverständlich im Normalfall die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich. Und dem Kind Aufmerksamkeit zu entziehen kann mitunter dazu führen, dass der Meltdown schneller endet – weil durch das In-Ruhe-Lassen zumindest nicht noch weitere soziale Reize dazukommen.

Das Kind sucht aber bei einem Meltdown alles andere als Aufmerksamkeit. Die Belastung war zu groß, und das ist das Ventil. Was das Kind jetzt braucht, ist ein reizarmer, sicherer Raum und Abschirmung von weiteren Anforderungen. Zu wissen, dass die Bezugsperson diese Bedürfnisse versteht und das Kind dafür nicht verurteilt, ist emotional wichtig.

Wenig hilfreich ist es hingegen, im Rahmen der bei ABA regelmäßig eingesetzten Technik „planned ignoring“ dann entweder das Kind komplett zu ignorieren und mit seinen überwältigenden Emotionen alleine zu lassen, oder nur das „unerwünschte Verhalten“ zu ignorieren und mit den Aufgaben fortzufahren, in einem Setting, das ja gerade erst zu der Überlastung geführt hat.

Bei allem, was als unerwünschtes Verhalten gelabelt wird, wäre es wichtig zu wissen, was Autisten über die entsprechenden Aufgaben und Situationen zu sagen haben, um das bei der Suche nach sinnvollen Lösungswegen zu berücksichtigen, und dabei je nachdem einen schnelleren Erfolg zu haben oder aber psychische Schäden zu vermeiden.

Diese Anstrengung, die Gründe für das Verhalten autistischer Kinder wirklich zu verstehen, sehe ich nur leider in den Studien nicht. Es sind immer wieder die gleichen oberflächlichen Funktionen, mit denen Verhalten gelabelt wird. Es werden immer noch ganz unterschiedliche Arten von „herausforderndem Verhalten“ in einer Kategorie zusammengefasst (z.B. mehr als eine Armeslänge vom Trainer entfernt, laute negative stimmliche Äußerungen, Aggression) und dann im Weiteren nicht mehr unterschieden, was wie häufig vorkommt. Und dann das Verschwinden von allen Arten davon als Erfolg beurteilt – ohne zu differenzieren, ob man ein insgesamt zufriedeneres Kind hat, das nicht mehr protestieren muss, oder ob es das Kind aufgegeben hat, gegen ungeeignete Aufgaben zu protestieren.

Man nehme als Beispiel diese Studie, deren Grundidee – Einsatz eines Tablets, um eine Abendroutine einzuüben – ich gar nicht so schlecht finde, aber einige „red“ flags“ hat: Verwendung von „physical prompts“, fehlende Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von „herausforderndem Verhalten“, und kein Interesse an tieferen Gründen dafür, sowie keine Berücksichigung von möglichen sensorischen Schwierigkeiten.

Kommen wir zurück auf den Anfang.

Wenn ich als Geisteswissenschaftlerin Quellen aus einem benachbarten Fach nicht zur Kenntnis nehmen würde, käme niemand dabei zu Schaden – außer meine eigene Reputation, wenn meine Interpretationen dann von denen widerlegt würden, die diese Quellen beachten.

Wenn jemand das Gleiche tut in einem Fach, in dem es darum geht, wie behinderte Kinder aufs Leben vorbereitet werden, dann ist das grob fahrlässig. Denn er beraubt sich damit der Möglichkeit, bessere Lösungen zu finden als bisher. Und riskiert, ohne Not auf falschen Hypothesen Therapie-Methoden aufzubauen. Auf möglicherweise relevante Informationen zu verzichten, nur weil die nicht aus der eigenen Disziplin stammen – das ist die wirkliche ideologische Verblendung.


Der Text wurde zuerst als Twitter-Thread veröffentlicht.

Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten